Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
Emma hinüber zu Kurt, der sie bereits schwanzwedelnd erwartete. »Die Uroma liest dir bestimmt noch ein bisschen aus Raupe Nimmersatt vor.«
»Aber sicher macht die Uroma das«, bestätigte Margot und trocknete ihre Hände an der karierten Kittelschürze ab.
Marieke Tannenberg blickte zur großen Pendeluhr, die neben dem Kühlschrank hing. »In einer halben Stunde kommt Ann-Sophie. Die Uroma bringt euch beide dann in den Kindergarten und Mama holt euch vor dem Mittagessen wieder ab.«
Die mit einer bequemen olivfarbenen Cargohose, einem orangefarbenen Langarm-Shirt sowie sportlichen Freizeitslippers bekleidete junge Mutter legte den Arm um die Schultern ihrer Großmutter und fragte mit melodischer Stimme: »Was gibt’s denn heute Mittag Feines, Oma?«
»Och, nichts Besonderes, mein Kind, nur Gulaschsuppe und Dampfnudeln mit Vanillesoße.«
»Hmh, traumhaft«, schwärmte ihre Enkelin und schmatzte in Vorfreude auf eines ihrer Lieblingsgerichte. »Wenn wir dich nicht hätten, Oma.«
»Dann müsste eben dein Opa kochen.«
»Oh, Gott, bewahre«, stöhnte Marieke auf. Lachend löste sie die Umarmung. »Was für eine Horrorvorstellung.« Mit einem flauschigen Haargummi band sie fingerfertig ihre kastanienbraunen, langen Haare zu einem Zopf zusammen und schlenderte zur Küchentür.
»Tschüss, ihr drei!«, rief sie winkend über ihre Schulter hinweg.
Als die NADA-Kontrolleure gegen neun Uhr das Waldhotel Antonihof betraten, standen die Radsportler in Grüppchen in der Eingangshalle beisammen und schwatzten miteinander. Privatdozent Dr. Erich Graupeter, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biochemie an der Universität Kaiserslautern, stellte sich und seine Helfer kurz vor. Als er den Ablauf der unangekündigten Dopingkontrolle erklärte, wirkten die Rennfahrer geradezu paralysiert. Er las aus einem Ordner die Namen derjenigen Fahrer des Turbofood-Teams vor, die dem Internationalen Radsportverband als Teilnehmer der diesjährigen Tour de France gemeldet worden waren.
Florian Scheuermann kam als Dritter an die Reihe. Um Manipulationen bei der Urinprobe zu verhindern, begleitete ihn einer der Studenten zur Toilette und stellte sich direkt neben das betreffende Urinalbecken. Der hochgewachsene, schlaksige Mann mit Rastafrisur und Skaterkleidung überragte den Radfahrer um Haupteslänge.
»Kennst du den Witz von John Wayne?«, versuchte Mariekes Kommilitone, die für beide Männer unangenehme Situation ein wenig zu entkrampfen.
Doch dem Jungprofi war alles andere als zum Scherzen zumute. Sein Mund war ausgetrocknet, die Zunge klebte am Gaumen und in seinem Kopf schossen panische, verzweifelte Gedanken wild durcheinander. »Könnten Sie nicht bitte ein paar Schritte zurückgehen. Es geht einfach nicht, wenn mir dabei einer zuschaut«, bat er in flehendem Ton.
»Da kann man nichts machen, rein gar nichts kann man da machen. Ich bleibe so lange neben dir stehen, bis du gepinkelt hast«, erwiderte der Student, der an all die Warnungen vor trickreichen Sportlerfinten dachte.
»Ich muss etwas trinken«, sagte Florian. »Vielleicht geht’s ja dann besser.
»Kannst du machen«, der Student zeigte auf den Wasserhahn, »sogar so viel du willst. Aber dann wird gepieselt.«
Knurrend begab sich der Radsportler zum Waschbecken, zog den Griff der Mischbatterie nach oben und schöpfte mit seinen zu Kellen umfunktionierten Händen fast ein Dutzend Mal Wasser. Rülpsend kehrte er zum Urinalbecken zurück.
»Bäääuerchen«, kommentierte sein Begleiter »Los, auf, jetzt stell dich mal nicht so verklemmt an. Denk einfach daran, dass deine Blase bis zum Platzen voll ist und du nicht pullern darfst. Du trippelst auf der Stelle herum und würdest weiß Gott was dafür geben, dass du endlich auf die Toilette darfst.«
Diese bildliche Vorstellung half tatsächlich. Nachdem Florian fertig war, nahm der Kontrolleur die Urinprobe entgegen und füllte die körperwarme Flüssigkeit in zwei kleinere Plastikbecher. »Für die berühmte B-Probe«, erläuterte er. »Das B steht übrigens für Belastung.«
Der Student kicherte blechern. »Also hast du gerade eine Belastungs-Probe hinter dir – im doppelten Wortsinne, versteht sich. Das allerdings nur, wenn wir etwas Illegales in deinem Pipi finden. So zappelig, wie du bist, würde mich das nicht im Geringsten wundern.« Nach diesem makaber-humoristischen Einwurf versiegelte er die Becher und schrieb den Namen des Sportlers und das Datum der Urinprobe auf die beiden Deckel.
Anschließend
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