Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
Kriminalpoesie.« Mit einer theatralischen Geste wandte er sich an seine Familie. »Und wie gefällt euch mein Poetry-Slam-Gedicht?«
»Das ist wirklich Schlamm«, brummelte Jacob.
Emma reagierte verstört auf diesen vermeintlichen Bruderzwist. Sie fing an zu weinen und rannte zu ihrer Mutter. Marieke nahm sie tröstend auf den Arm und wiegte sie auf ihren Knien.
»Opa und Onkel Wolf haben nur Spaß gemacht, mein Schatz«, flüsterte sie der wimmernden Kleinen ins Ohr. In protestierendem Ton sagte sie an die beiden Männer gerichtet: »Allerdings bedeutend zu laut.«
»Tut mir leid, da sind wir wohl ein wenig zu weit gegangen«, entschuldigte sich ihr Vater.
»Jedenfalls hab ich nach dieser Bildzeitungs-Schlagzeile meine Wette mit Benny verloren«, bemerkte Tannenberg.
»Wette? Aha, wer ist denn nun der Zocker in unserer Familie?«
»Lenk nicht ab, Vater«, erwiderte sein jüngster Sohn, »rück lieber endlich mal mit deinen angeblich so sensationellen Informationen raus.«
»Das hätte ich ja wirklich fast vergessen«, gab der Senior mit einem spitzbübischen Lächeln zurück. »Als Breitband-Mediennutzer besitze ich halt einen beträchtlichen Informationsvorsprung gegenüber solchen technikfeindlichen Gesellen wie dir. Du solltest …«
»Vater«, knurrte Tannenberg bedrohlich.
»Also gut: Seit einer halben Stunde wird eine Eilmeldung über die Medien verbreitet.« Er brach ab und steigerte genüsslich die Spannung.
»Jacob, hör endlich auf, den armen Wolfi so zu ärgern«, schimpfte seine Ehefrau.
»Du gönnst einem noch nicht einmal die kleinste Freude«, knurrte der Senior und wandte sich an den Kriminalbeamten. »Dann spitz mal die Ohren, du Super-Polizist: Um 18 Uhr findet hier in der Stadt eine Pressekonferenz mit einem Kronzeugen statt. Es soll um Doping im Radsport gehen. Und es soll angeblich einer von diesem Ami-Verein sein.«
»Was, hier bei uns in der Stadt?«
»Jo.«
»Einer aus dem Turbofood-Team?«
»Noch mal: Jo.«
»Und wo?«
»Im Hotel am Stadtpark. Vielleicht sagt dieser Kronzeuge ja auch etwas darüber, wer diesen holländischen Muskelkneter ermordet hat.«
»Mechaniker, Vater«, korrigierte der Kriminalbeamte. »Der Tote war Mechaniker, nicht Masseur.«
»Ist doch völlig wurscht, ob einer an einem Fahrrad oder an einem Menschen herumschraubt«, blaffte der alte Mann. »Wenn ich mich richtig entsinne, gab’s da vor Jahren doch schon einmal solch einen Verräter.«
»Wieso Verräter? Sei doch froh, dass mal einer den Mut aufgebracht hat, diese Doping-Sauereien aufzudecken.«
»Der wollte damals doch nur sein Buch verkaufen. Und gut bekommen ist es ihm auch nicht. Wie heißt es so schön: Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter.« Jacob stemmte sich auf die Ellbogen und drückte den Oberkörper so weit nach vorne in Richtung seines gegenübersitzenden Sohnes, dass sein Hemd fast den Suppenteller berührte. »Und der war Masseur.«
10. Etappe
Torsten Lepplas Oberkörper wurde nach hinten gerissen. Mitsamt seinem Stuhl kippte er um und landete auf den Beinen seines FAZ-Kollegen, den die Druckwelle ebenfalls nach hinten geworfen hatte. Den Sportredakteur der Pfälzischen Allgemeinen Zeitung wiederum umklammerte ausgerechnet die italienische Journalistin, die ihn noch vor ein paar Minuten eiskalt hatte abblitzen lassen.
In dem zum Pressezentrum umfunktionierten Speisesaal des Hotels herrschte das reinste Chaos. Die von Todesangst getriebenen Menschen stießen hysterische Schreie, Hilferufe und wirre Kommandos aus. Diejenigen, die bei der Explosion nicht auf Stühlen gesessen hatten, stürmten fluchtartig in Richtung des Ausgangs. Wie Mikadostäbchen lagen wild durcheinandergewürfelte Menschen auf dem Boden. Sie versuchten, sich unbeholfen aufzurichten, wurden aber von den rücksichtslos über Stühle und Tische hinwegstapfenden Reportern immer wieder zu Boden gedrückt.
Dass Torsten Leppla den anderen nicht sofort folgen konnte, hatte für ihn eine ausgesprochen positive Konsequenz zur Folge. Denn während seine Kollegen noch immer mit der Panik im Nacken aus dem Raum stürzten, wurde ihm schlagartig klar, dass er genau das Gegenteil tun musste, nämlich die Gunst der Stunde nutzen, an Ort und Stelle bleiben und alles fotografieren.
Das ist meine große Chance, eine, die vielleicht nie mehr wiederkommen wird, hämmerte es unter seiner Schädeldecke, während er wie ein Besessener auf dem Auslöser herumdrückte. Ich schieße Fotos, die mir die großen
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