Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
Monatsende lieferte er seine Lohntüte brav bei Roswitha ab und begnügte sich mit einem schmalen Taschengeld. Still und voller Demut fügte er sich seinem Schicksal, das nur ab und an eine kleine Freude für ihn bereithielt.
Jeden Samstag wurde er mit einer langen Einkaufsliste auf den Kaiserslauterer Wochenmarkt geschickt, wo er stets versuchen musste, die billigsten Angebote zu erhaschen. Wenn er dann schwer bepackt nach Hause kam, wurde haargenau abgerechnet, wobei er bis auf den letzten Pfennig beziehungsweise Cent seine Einkäufe rechtfertigen musste.
Rosi, seine dominante Gattin, hatte fast immer etwas an seinen Einkäufen auszusetzen. Auch wenn er preisgünstige Sonderangebote ausgespäht und an Land gezogen hatte, verfuhr sie entsprechend des Slogans ›Nicht geschimpft ist genug gelobt‹.
Nur ein einziges Mal in all den vielen, leidvoll ertragenen Jahren hatte sie ihn für seine Wochenmarkteinkäufe gelobt. Voller Stolz hatte er kurz vor Marktschluss bei einem Geflügelhändler ein Hähnchen zum Spottpreis von nur 99 Pfennigen erstanden. Und dies hatte Roswitha doch tatsächlich ein Wort des Lobes entlockt.
Aber bereits eine Stunde später folgte die grausame Ernüchterung. Denn als das vermeintliche Schnäppchen gegrillt war, zeigte es sein wahres Gesicht und entpuppte sich als ungenießbares Suppenhuhn. Rosi reagierte wie eine wild gewordene Furie und schlug so wütend auf ihren Mann ein, dass selbst die debilen Zwillinge Mitleid mit ihrem biologischen Erzeuger hatten und jämmerlich zu weinen begannen.
Die einzigen Highlights in Georgs ereignisarmem und freudlosem Leben waren seine Hunde. Der aktuelle treue Weggefährte hieß Ajax und war ein knapp drei Jahre alter Mischlingsrüde. Die Schulterhöhe des Hundes bewegte sich knapp oberhalb des Knies seines Herrchens. Der Rüde war von schlanker Gestalt und hatte ein ruhiges, einfühlsames Gemüt. Sein Haarkleid bestand aus einer feinen grauen Unterwolle und zottigem, schwarzem Deckhaar. Auf der Stirn hatte er einen weißen Fleck, der ihn unverwechselbar machte.
Auf den täglichen langen Spaziergängen sprach Georg in einer unverblümten Offenheit zu seinem Hund, die er niemals einem Menschen gegenüber gezeigt hätte. Nein, er klagte nicht, er redete sich nur seinen Kummer von der Seele.
Auch an diesem milden Frühsommertag verließen die beiden kurz nach 9 Uhr das im sogenannten Kirschloch gelegene schmucklose Haus der Familie Hartmann. Der Rundweg führte sie zunächst über den Hohenecker Berg hinunter ins Kolbental und von dort aus zum westlichen Ufer des Gelterswoogs, wo die beiden auf einer Holzbank gewohnheitsmäßig eine Rast einlegten.
Dieses Ritual lief stets in ein und derselben Reihenfolge ab: Zuerst fütterte Georg seinen Hund mit ein paar Leckereien, woraufhin sich Ajax überschwänglich bei seinem Herrchen bedankte. Anschließend inspizierte der Mischlingsrüde ausgiebig die nähere Umgebung, während sich Georg in aller Ruhe seine Pfeife stopfte.
Mit Blick auf den blühenden Seerosenteppich und die von hohen Tannen eingefriedete, ruhige Wasserfläche genoss er die für ihn schönste Zeit des Tages. Während er sich schmauchend an der friedlichen Stille labte, schweiften seine Gedanken ab in das Reich seiner Fantasie, hinein in eine Traumwelt, in der weder minderbemittelte Töchter noch ein bösartiger Hausdrache existierten.
Das laute Bellen seines Hundes erschreckte ihn derart, dass ihm die Pfeife aus dem Mund fiel. Er hob sie auf, steckte sie wieder zurück zwischen die Lippen und erhob sich ächzend wie eine alte pfälzische Eiche von der Bank.
»Aus, Ajax«, rief er in die Richtung, aus der das hektische Gebell an seine Ohren drang.
Aufgrund des dichten Ufergestrüpps konnte er Ajax zunächst nicht sehen, sondern nur hören. Erst nach der Biegung des schmalen Uferpfads entdeckte er den Mischlingsrüden.
Ajax stand mit beiden Vorderpfoten im Wasser und schlug heftig an. Nach drei weiteren Schritten war Georg Hartmann klar, weshalb Ajax derart außer sich war. Dicht am Ufer trieb ein bekleideter menschlicher Leichnam bäuchlings im Wasser. Der Rentner leinte seinen Hund an und zog ihn vom See weg. So schnell er konnte, eilte er zu dem Strandbad, das nur einige 100 Meter entfernt war. Von dort aus verständigte der Pächter umgehend die Polizei.
Als Tannenberg und seine junge Mitarbeiterin etwa 20 Minuten später am Gelterswoog eintrafen, hatten die Besatzungen von mehreren ausgerückten Streifenwagen bereits den
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