Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
schlaff und müde, vollkommen fertig. Das muss auch an diesem Teufelszeug liegen. Ich war doch vorher topfit.
Florian seufzte leidend auf. Dann erhob er sich von seinem Bett und ging ein paar Schritte durch sein Zimmer. Wehmütig dachte er zurück an seine Zeit als Internatsschüler am Heinrich-Heine-Sportgymnasium, das er vor 15 Monaten nach bestandenem Abitur verlassen hatte. Er sehnte sich nach der Geborgenheit und dem engen Zusammenhalt unter seinen Sportkameraden, von denen einige im Laufe der langen, gemeinsamen Schulzeit sogar enge Freunde geworden waren. Mit ihnen hatte er vieles erlebt und durchgestanden.
Bei all ihren Streichen und Regelmissachtungen waren die Fronten immer klar gewesen: hier die Schüler, dort die Lehrer und Erzieher. Auch wenn sich die Pädagogen sehr bemühten und sie mit ihnen auch recht gut auskamen, so wurden die Betreuer jedoch von den neugierigen, lebenshungrigen jungen Männern, die ihre Grenzen ausloten mussten, nicht richtig ernst genommen.
Als Florian sich an die unermüdlichen Appelle der Radsportlehrer erinnerte, glimmte ein kurzes Lächeln in seinem Antlitz auf. Wie oft hatten sie letztlich erfolglos ihre Zöglinge dazu ermahnt, auch ja der Straßenverkehrsordnung entsprechend in Reihen und nicht paarweise nebeneinanderher zu fahren.
Doch kaum hatten die jugendlichen Radfahrer das Gelände des Heinrich-Heine-Gymnasiums verlassen, schon gruppierten sie sich quasi automatisch in einer kommunikationsfördernden Paar-Struktur, welche die wütenden Autofahrer auf den engen Straßen nach Mölschbach oder am Hungerbrunnen vorbei den Stall hinauf schier zur Verzweiflung trieb.
Diese unbekümmerte, eingeschworene Gruppe der gleichaltrigen Mitschüler vermisste er gegenwärtig sehr. Selbstverständlich sollten auch die Turbofood-Rennfahrer ein Team bilden, denn nur mit einer disziplinierten Mannschaftsleistung war es möglich, im Wettkampf erfolgreich zu sein und optimale Leistungen zu erbringen.
Theoretisch war jedem klar, dass ihr Team nur funktionieren konnte, wenn sich der eine auf den anderen verlassen und darauf vertrauen konnte, dass jeder bereit war, sich für die Mannschaft aufzuopfern. Doch in der Praxis bestand ein Profi-Rennstall eben nicht aus selbstlosen Mannschaftsspielern, sondern aus egoistischen Einzelkämpfern und Legionären, die lediglich zur Erreichung einer von dem Arbeitgeber gesetzten Zielvorgabe eine zeitlich begrenzte Zweckgemeinschaft bildeten.
Gemeinsame Aktivitäten unternahmen die Rennfahrer entweder nur auf Anordnung der Teamleitung hin, oder aber in kleinen Grüppchen, die sich jedoch meist auf die Zugehörigkeit der Fahrer zu ein und derselben Nationalität beschränkte. So bildeten nach Florians ersten Eindrücken sowohl die Amerikaner als auch die Usbeken solche abgeschotteten Einheiten.
Heiko Bolander, den deutschen Bergspezialisten, neben dem er auf der Fahrt zum Trainingslager gesessen hatte, vermochte er nach den wenigen Tagen noch nicht richtig einzuschätzen. Einerseits verhielt er sich ihm gegenüber sehr freundschaftlich und hilfsbereit, andererseits aber hatte Florian am vorigen Nachmittag den Eindruck gewonnen, dass Bolander während der Trainingsausfahrt seinen neuerlichen Kontaktversuch abgeblockt hatte.
Vielleicht hab ich mir das ja auch nur eingebildet, dachte der Jungprofi. Oder Heiko war gestern einfach nicht gut drauf. Verdammt, ich muss aber endlich mit jemandem reden. Ich halte das nicht mehr länger durch. Eigentlich könnte ich mich auch an Jenny wenden. Aber bei der weiß ich noch nicht, wie sie mit den Leuten hier zusammenhängt. Die tuschelt mit jedem, macht jeden an. Manchmal denke ich, die arbeitet nebenher als Team-Nutte, so aufreizend, wie sie immer mit allen rumschäkert.
»Ach, Quatsch«, zischte er, wütend auf sich selbst.
Ich kenne sie doch überhaupt nicht näher. Deshalb darf ich ihr so etwas auch nicht unterstellen. Vielleicht ist sie ja auch ganz harmlos und spielt einfach nur gerne ein bisschen mit dem Feuer. Aber eine heiße Tussi ist sie schon. Die hat vielleicht ein geiles Fahrgestell.
Um sich von diesen Gedanken abzulenken, warf er einen Blick auf seinen Reisewecker.
Zeit für die Pillen, stellte er bekümmert fest. Ich will die ja eigentlich gar nicht schlucken. Aber was soll ich denn bloß machen? Bringe ich nicht die geforderte Leistung, bin ich ruck, zuck weg vom Fenster. Das spricht sich doch ganz schnell rum. Dann will mich garantiert auch kein anderer Teammanager mehr für seinen Rennstall
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