Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
räusperte sich und schlug mit einem Mal bedeutend versöhnlichere Töne an: »Sie müssen schon entschuldigen, meine Herren, ich bin im Augenblick ein wenig angespannt.« Er schluckte hart. »Diese schrecklichen Ereignisse und diese ungeheuerlichen Anschuldigungen gegenüber dem Turbofood-Rennstall sind auch an mir nicht spurlos vorübergegangen. Ich habe die letzten Tage und Nächte kaum ein Auge zugemacht.«
Mir kommen vor Mitgefühl gleich die Tränen, höhnte der Leiter des K 1 in Gedanken. »Aber, Herr Anwalt, es liegt doch ganz an Ihnen, diese belastende Angelegenheit ganz schnell zu klären«, sagte er. »Sie müssen nur Ihren Mandanten die Erlaubnis erteilen, endlich eine Aussage zu machen.«
Professor Grabler kehrte die Handflächen nach außen. »Herr Hauptkommissar, um es noch einmal in aller Deutlichkeit klarzustellen: Pieter Breedekamp kann nichts sagen, weil es nichts zu sagen gibt. Er hat diesen Mord nicht begangen, ja, er war noch nicht einmal in dieser Nacht im Keller. Er hat nicht den blassesten Schimmer davon, wieso Dr. Schneider ihm solch eine infame Ungeheuerlichkeit unterstellt.«
Tannenberg lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste über beide Backen. »Nach Ihrer Meinung hat sich Dr. Schneider das alles also nur ausgedacht?«
»Genau so ist es.«
»Dann erklären Sie uns doch bitte einmal, weshalb er dies hätte tun sollen?«
»Vielleicht, weil er selbst Joop van der Miel ermordet hat.«
Der Leiter des K 1 lachte schallend auf. »Und anschließend hat er sich dann eigenhändig in die Luft gesprengt.« Mit heiterer Miene schüttelte er den Kopf. »Sie haben wirklich eine blühende Fantasie. Sie sollten unbedingt Kriminalromane schreiben.«
14. Etappe
Freitag, 3. Juli
Die gerade erwachende Junisonne tauchte die Umgebung des Waldhotels in ein sanftes Dämmerlicht. Am Rande einer taubenetzten Wildwiese ästen zwei Rehe. Abwechselnd spähte eines von ihnen hinüber zu dem Viersternehotel, das sich noch im Schlummerzustand zu befinden schien. Der warme Atem der Tiere mischte sich mit dem wabernden Morgennebel, der sich wie ein milchiger Schleier über die Farne und Heidelbeerstöcke gelegt hatte. Erste Sonnenstrahlen, die man meinte, einzeln mit den Händen greifen zu können, drückten sich durch den majestätischen Hochwald hindurch und komplettierten dieses ästhetische Naturschauspiel.
Florian Scheuermann lag auf dem Rücken und grübelte mit geschlossenen Augen über seine derzeitige Situation nach. In der schier endlosen Nacht war er wieder lange wach gelegen und hatte nur wenige Stunden am Stück geschlafen.
Vielleicht war es doch eine falsche Entscheidung, schon so früh den Sprung ins Profi-Lager zu wagen, marterten ihn quälende Gedanken. Ich hätte besser noch ein, zwei Jahre Erfahrungen sammeln sollen, bevor ich ins kalte Wasser springe. Ich glaube, ich bin dem Ganzen hier nicht gewachsen. Dafür bin ich noch nicht abgebrüht genug.
Das muss man sich einmal vorstellen: Da werden innerhalb kürzester Zeit zwei Leute aus dem direkten Umfeld unserer Mannschaft ermordet und alle machen ganz normal weiter, so als sei überhaupt nichts passiert. Nach einer kurzen Traueransprache wird einfach zur Tagesordnung übergegangen, werden Trainingspläne besprochen und Strategien für die einzelnen Tour-Etappen festgelegt.
Die Frage, ob unsere Mannschaft unter solchen Voraussetzungen überhaupt bei der Tour starten soll oder kann, wird überhaupt nicht diskutiert. Völlig emotionslos hat Bruce Legslow gestern Abend verkündet: »The show must go on.« Dazu hat er uns den Queen-Song vorgespielt und von John übersetzen lassen, dass wir uns an Freddy Mercury ein Beispiel nehmen sollen, schließlich habe er trotz seiner fortgeschrittenen Aids-Erkrankung weitergemacht und diesen Mega-Song nicht nur geschrieben, sondern auch noch gesungen.
Und dann hat Legslow zwei andere Sätze losgelassen, die noch knallharter waren: »Als Profis müsst ihr so etwas wegstecken. Wenn ihr das nicht schafft, habt ihr euren Job verfehlt und könnt gehen. Ihr werdet nämlich nicht für das Denken bezahlt, sondern für das Treten.«
Der Kerl hat vielleicht Nerven. Wie soll ich denn bloß Topleistungen vollbringen, wenn mir diese Morde einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen? Ich kann mich doch überhaupt nicht richtig von den anstrengenden Trainingseinheiten erholen. Und dann auch noch diese Dopingmittel, bei denen ich das Gefühl nicht loswerde, dass mein Körper dagegen rebelliert. Ich bin so
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