Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
so bald wie möglich zu überholen. Aus guten Gründen hatte er niemandem etwas von diesem Vorhaben erzählt. Schließlich sollte es eine große Überraschung werden, die seine Position im Team garantiert stärken würde.
Insgeheim träumte er sogar davon, am Ende der Tour das sogenannte ›maillot blanc‹, das weiße Trikot des besten Jungprofis, auf den Champs-Élysées übergestreift zu bekommen. Falls ihm dies tatsächlich gelingen sollte, wollte er dieses Trikot seinen Eltern als Dank dafür schenken, dass sie ihn all die Jahre über so liebevoll und selbstlos unterstützt hatten.
Aber das waren zunächst natürlich nur die realitätsfernen Wunschträume eines jungen Himmelsstürmers. Bislang war es noch niemals zuvor einem Tour-Neuling gelungen, auf Anhieb das ›maillot blanc‹ zu gewinnen. Obwohl Florian Scheuermann diese Statistik kannte, träumte er trotzdem davon, der Erste zu sein, dem dies gelang.
Als er sich vor der Fruchthalle in windschnittiger Körperhaltung in die Kurve legte, hörte er im Kopf die Stimme seines Vaters, der gerade seinen Lieblingsspruch zum Besten gab: »Mein Junge, schreib dir eins hinter die Ohren: Träume nicht dein Leben – lebe deine Träume!«
Und mein großer Traum besteht darin, meine erste Tour de France bis zum Ende durchzustehen, antwortete er tonlos seinem Vater. Wenn’s zusätzlich noch mit dem weißen Trikot klappen sollte – umso besser! Florian biss die Zähne zusammen, trat auf der nun folgenden Geraden noch kraftvoller in die Pedale und ergänzte in Gedanken: Und mein kleiner Traum besteht darin, diesem Mistkerl vor mir eine Minute abzunehmen und vor ihm ins Ziel zu kommen.
Nachdem das jüngste Mitglied der Turbofood-Mannschaft die S-Kurve am ehemaligen Pfalztheater optimal genommen hatte und nun wieder beschleunigte, erspähte er weit entfernt auf der schnurgerade verlaufenden Pariser Straße den unmittelbar vor ihm gestarteten Rennfahrer.
»Dir werde ich’s zeigen«, zischte er und raste an dem Spalier der dicht gedrängt stehenden, jubelnden Radsportfans vorbei.
Die weitere Streckenführung ermöglichte zwar noch mehrmals einen ähnlich weiten Blick nach vorne, aber Florian konnte den vorausfahrenden Kollegen nicht mehr sehen. Dafür nahm er plötzlich auf der Höhe des Gelterswoogs ein schnaubendes Geräusch hinter sich wahr, das von dem typischen Sirren einer Rennmaschine begleitet wurde.
Entsetzt wandte er sich um und blickte mitten hinein in das hämische Grinsen des Fahrers, der eine Minute nach ihm gestartet war. Als dieser die gleiche Höhe erreichte, legte er seine Hand auf Florians Hinterteil und schubste ihn leicht an. Danach schaltete er einen Gang hoch und überholte ihn.
Obwohl Florian die Wut in jedem Körperteil spürte, musste er ihn tatenlos ziehen lassen. Während er dem überlegenen Fahrer entgeistert hinterherblickte, sah er, wie dieser ihm zum Abschied den ausgestreckten Mittelfinger zeigte.
Florian war nicht zur geringsten Gegenwehr imstande. Seine Beine fühlten sich immer schwerer an, zudem registrierte er erste Anzeichen einer muskulären Übersäuerung. Obgleich ideale Wetterbedingungen und nahezu Windstille herrschten, fühlte er sich wie in einem Windkanal, wo ihm bei Windstärke 8 erbarmungslos die Kräfte aus dem Leib gesaugt wurden.
Er schaute Hilfe suchend nach hinten, doch schlagartig wurde ihm bewusst, dass es den Teamfahrzeugen beim Einzelzeitfahren strikt untersagt war, sich innerhalb der Streckenabsperrung zu bewegen. Selbstverständlich hätte er sich an eines der neutralen Begleitfahrzeuge oder auch an den Tour-Arzt wenden können, aber dazu schämte er sich zu sehr für sein Versagen.
Über einen Kopfhörer stand er mit Bruce Legslow in Verbindung, doch der hatte sich seit Minuten nicht mehr bei ihm gemeldet. Zunächst hatte Florian dies darauf zurückgeführt, dass sich sein sportlicher Leiter wohl intensiv um die stärkeren Zeitfahrer des Teams kümmern musste.
Doch nun befürchtete er, dass dieser ihn womöglich schon jetzt als aussichtslosen Fall abgehakt hatte. Das Letzte, was er von ihm gehört hatte, war der Appell, alles aus sich herauszuholen. Das wollte er auch, doch sein Körper befolgte die Befehle des Kopfes einfach nicht mehr.
Am Anstieg hinauf nach Trippstadt überholte ihn ein weiterer Rennfahrer. Dieser fragte mit besorgter Miene, was denn mit ihm los sei. Florian schüttelte nur den Kopf und keuchte »übersäuert«.
»Mach dir nichts draus. Es kommen auch wieder bessere Tage. Pass
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