Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
Jungen ja noch dieser ganze Stress mit den ungeklärten Mordfällen hinzukommt.«
Die nächsten beiden Stunden kam der altgediente Kriminalbeamte aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er konnte kaum glauben, was er da im Fernsehen sah. Denn nicht nur Florian Scheuermann brach beim Einzelzeitfahren völlig ein, sondern auch alle anderen Fahrer des Turbofood-Teams lieferten miserable Leistungen ab.
Sogar der amtierende Zeitfahrweltmeister, den Turbofood vor dieser Saison für viel Geld eingekauft hatte, kam mit mehr als vier Minuten Rückstand ins Ziel, was ihm einen völlig indiskutablen 86. Platz bescherte. Damit war er allerdings immer noch der Beste seiner Mannschaft, denn alle anderen Fahrer rangierten noch weiter abgeschlagen auf dreistelligen Plätzen. In der Endabrechnung erreichte Florian Scheuermann trotz einer desaströsen Leistung sogar noch die drittbeste Zeit innerhalb des Teams.
Sabrina Schauß rief ihren Vorgesetzten an und teilte ihm mit, dass Florian Scheuermanns Eltern vor ein paar Minuten im K 1 aufgetaucht seien. Sie seien völlig aufgelöst, kaum zu beruhigen und wollten unbedingt ihn persönlich sprechen.
Hauptkommissar Wolfram Tannenberg setzte sich daraufhin in seinen roten 3er-BMW und fuhr zu seiner Dienststelle. Wie stets war das Autoradio eingeschaltet. Eine Sprecherin unterbrach den laufenden Musiktitel und informierte die Hörer darüber, dass der sportliche Leiter des Turbofood-Teams gerade den sofortigen Ausstieg seiner Mannschaft aus der heute begonnenen Tour de France bekannt gegeben hat.
Als Grund für diesen überraschenden Entschluss wurde das schlechte Abschneiden aller Fahrer des Teams beim Einzelzeitfahren angeführt. Dem Anschein nach hätten die dramatischen Mordfälle, die sich in den letzten Tagen im direkten Umfeld des Teams ereignet hätten, zu diesem extremen Leistungseinbruch geführt, hieß es abschließend.
»Was seid ihr doch alle für elende Warmduscher«, spottete Tannenberg, unter Rückgriff auf ein vor Kurzem von seinem Vater verwendetes Schimpfwort. »Da läuft’s mal nicht gleich optimal – und schon werft ihr die Flinte ins Korn«, schleuderte er hinterher.
Nachdem Sabrina ihrem Chef die Eltern des Jungprofis vorgestellt hatte, bat Tannenberg das Ehepaar in sein Büro und schloss die Tür. Florians Vater war ein stämmiger Mittvierziger, dem man auf den ersten Blick ansah, dass er zeitlebens viel Sport betrieben hatte. Auch seine etwa gleich große, aber bedeutend drahtiger wirkende Ehefrau erweckte einen ausgesprochen sportlichen Eindruck.
Er: Turner oder Radfahrer. Sie: Mittel- oder Langstrecklerin, tippte Tannenberg im Stillen. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Was führt Sie zu mir?«, fragte er in einem freundlichen, einfühlsamen Ton.
»Wir haben große Angst, dass sich unser Sohn etwas antun könnte«, kam die mit Jeans und Ringelshirt bekleidete Frau gleich zur Sache. Sie hielt ein Taschentuch in der Hand, mit dem sie ihre Tränen abtupfte.
»Wie kommen Sie darauf?«, wollte der Kriminalbeamte wissen.
Monika Scheuermann schniefte auf und wurde von einem Weinkrampf durchgeschüttelt. Ihr Mann nahm sie liebevoll in den Arm, zog sie zu sich heran und antwortete: »Unser Florian ist ein sehr sensibler Junge«, sagte er mit gepresster Stimme. Obwohl er seine Emotionen ein wenig besser im Griff zu haben schien als seine Frau, legten seine zuckende Kinnpartie und die heftigen Schluckbewegungen ein beredtes Zeugnis über seinen wahren Gemütszustand ab. »Nach seinem totalen Einbruch haben wir mehrmals versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen.«
»Gerade eben hab ich’s nochmals probiert«, wimmerte Florians Mutter dazwischen.
Ihr Ehemann streichelte zärtlich über ihre kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haare. Er räusperte sich und konnte offensichtlich nicht weitersprechen.
»Ich habe das Einzelzeitfahren am Fernseher verfolgt«, versuchte Tannenberg das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Auch wenn’s vielleicht seltsam klingen mag: Aber eigentlich braucht sich Ihr Sohn für seine Leistung nicht zu schämen. Er war schließlich noch einer der Besten seiner Mannschaft. Und das als Neuling. Das verdient doch wohl eher Respekt.«
Zwei dankbare Blicke trafen den Leiter des K 1. »Genauso sehen wir das auch«, versetzte Klaus Scheuermann.
»Und das wollen wir ihm unbedingt sagen«, ergänzte seine Ehefrau und schob nach, wobei sich ihre Stimme überschlug: »Das müssen wir ihm unbedingt sagen. Wir müssen ihn aufbauen, damit …« Den
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