Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
naheliegende Antwort: »Klar, wegen des Tour-de-France-Starts in der Fischerstraße findet heute auf dem Stiftsplatz kein Wochenmarkt statt«, fasste er seine Inspiration in Worte.
Er klopfte sich leicht auf die Schläfe und erinnerte sich mit einem Mal an die Kopfwunde, die von Dr. Schönthaler mit mehreren Stichen genäht worden war. Er tastete ein wenig darauf herum und stellte erfreut fest, dass die Wundheilung offenbar ohne Entzündung vonstatten ging.
Margots sorgenvoller Blick begleitete seine Hand bei ihrer Schädelexkursion. »Tut’s noch arg weh, Wolfi?«
»Nee, Mutter, nicht der Rede wert.«
»Warmduscher«, kommentierte Jacob mit einem für ihn doch eher ungewöhnlichen Ausflug in die Jugendsprache.
Tannenberg lachte. »Wo hast du denn den Ausdruck her?«
»Hab ich von Tobias. Mit meinem Enkel kann ich mich nämlich richtig gut unterhalten.«
»Ganz anders als mit mir.«
Jacob ignorierte die Bemerkung und wandte sich demonstrativ wieder der Zeitungslektüre zu. »Wegen diesem blöden Radrennen bringen die hier in der Stadt alles durcheinander«, moserte er.
»Schaust du dir dieses Spektakel denn etwa nicht an, Vater? Der Tour-de-France-Zirkus wird vielleicht nie mehr in der Pfalz gastieren.«
»Zum Glück«, blaffte der Senior.
»Natürlich lassen wir uns das nicht entgehen, Wolfi«, entgegnete Margot anstelle ihres Mannes. »Auch dein Vater nicht. Die bringen das ja im Fernsehen. Da sieht man sowieso alles viel besser. Ich schau mir die Übertragungen allein schon wegen dem Flo an, also dem Florian Scheuermann.« Sie faltete die Hände wie zum Gebet und erklärte mit versonnenem Blick: »Der ist ja so was von goldig.«
»Habt ihr euch diesen Kerl wenigstens auch mal anständig zur Brust genommen?«, polterte Jacob energisch dazwischen. »Die stecken doch bestimmt alle unter einer Decke. Aber einer, der noch nicht lange bei denen dabei ist, wird bestimmt noch nicht ganz so abgebrüht sein wie die anderen. Wenn ihr dem ein paarmal anständig die Daumenschrauben anzieht, erzählt der euch hundertprozentig alles, was er weiß.«
Nachdem er in der Vergangenheit immer nur an der Mauer des Schweigens abgeprallt war, hatte sich der Senior eigentlich fest vorgenommen, seinen störrischen Sohn nie mehr nach irgendwelchen kriminalpolizeilichen Ermittlungsfortschritten zu fragen. Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen, weil er nun doch wieder rückfällig geworden war.
Aus Wut über die erwartete arrogante Zurückweisung vonseiten seines Sohnes versteckte er sich hinter seiner Bildzeitung und knirschte so laut mit seinen falschen Zähnen, dass es jeder hören konnte.
Margot hatte in Anbetracht des martialischen Vorschlags ihres Mannes entsetzt die Hand auf den Mund gelegt. »Nein, Jacob, der Florian hat ganz bestimmt überhaupt nichts mit diesen Morden zu tun. Genauso wenig wie er dieses Dopingzeug benutzt«, sagte sie durch die Zwischenräume ihrer Finger.
»Wenn du das glaubst, bist du so naiv, dass du getrost vom Turm der Stiftskirche springen kannst. Du musst nur fest daran glauben, dass dich unten einer auffangen wird«, höhnte Jacob.
Nachdem Margot einen grimmigen Blick hinüber zu ihrem Ehemann abgeschossen hatte, wandte sie ihm die kalte Schulter zu und schlurfte zur Spüle.
»Ach, Vater, hab ich dir eigentlich schon von der sensationellen Wende in meinem neuen Fall erzählt?«, fragte Tannenberg betont beiläufig.
Jacob ließ umgehend die Zeitung nach unten sinken und starrte seinen jüngsten Sohn gleichermaßen verwundert wie erwartungsvoll an. »Nein, Wolfram, das hast du nicht. Was gibt’s denn Neues?«
»Es hat sich eine völlig überraschende Entwicklung ergeben.«
»Und wie sieht die aus, wenn ich fragen darf?«, versetzte Jacob mit ungewohnter Höflichkeit.
Um die Spannung noch ein wenig zu steigern, zögerte Tannenberg seine Antwort ein paar Sekunden hinaus. Dann verkündete er grinsend: »Man hat mir gestern den Fall entzogen. Das BKA besitzt nun die alleinige Ermittlungshoheit.«
»Kein Wunder, bei euch Flaschen«, kommentierte der Senior.
17. Etappe
Die Tour de France wartete in diesem Jahr mit einem Novum auf. Noch nie zuvor in ihrer langen und wechselvollen Geschichte hatte dieser Radsport-Klassiker mit einem derart anspruchsvollen Einzelzeitfahren begonnen. Zwar hatte man in der Vergangenheit schon mehrfach die Tour mit einem Einzelzeitfahren eröffnet. Doch diese Prologe dauerten stets nur wenige Minuten und waren eher ein Schaulaufen der einzelnen
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