Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
auf, dass die Muckis nicht ganz festwerden. Ist wirklich eine Scheiß-Etappe!«
Florian Scheuermann fühlte sich ausgesprochen elend. Bei seinen früheren Rennen hatte er sich die Kräfte optimal eingeteilt, immer noch ein paar Körner in Reserve behalten. Die hatten ihm gerade auf den letzten Kilometern oft einen entscheidenden Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschafft. Doch ausgerechnet bei seiner ersten Tour-de-France-Etappe war er total schlapp und ausgelaugt, körperlich völlig am Ende. Jeder Tritt verursachte ihm Schmerzen und er musste, um Muskelfaserrissen vorzubeugen, die Beine häufig ausschütteln.
Als er am Hochspeyerer Stich gleich von zwei weiteren hinter ihm gestarteten Tour-Teilnehmern überholt und abgehängt wurde, konnte er dem inneren Druck nicht mehr standhalten. Er legte die Stirn auf den Lenker und weinte wie ein Schlosshund.
Ich habe total versagt. Ich bin der absolute Loser, bombardierte er sich mit Vorwürfen. Von wegen kometenhafter Aufstieg. Nach diesem Fiasko bin ich weg vom Fenster. Nicht nur bin ich aus dem Team, sondern aus der gesamten Szene. Ich werde nie mehr einen Vertrag bekommen. Ich habe alle enttäuscht, alle. Nicht nur meinen sportlichen Leiter, der mich noch gestern mit Vorschusslorbeeren überhäuft hat, nein, auch meine ganzen Fans – und vor allem meine Eltern. Er seufzte tief. Sie werden sich für mich in Grund und Boden schämen. Am besten gebe ich mir gleich die Kugel.
Zur gleichen Zeit, als sich vor den Toren der Barbarossastadt dieses Radsportdrama ereignete, lag Wolfram Tannenberg gemütlich zu Hause auf seiner Wohnzimmercouch. Er war umgeben von zwei seiner mittlerweile sechs Lieblingsfrauen. Dazu gehörten: Seine Mutter Margot, die ein Stockwerk tiefer gerade gemeinsam mit ihrem Mann vor dem Fernsehgerät saß, und seine Nichte Marieke, die zu diesem Zeitpunkt etwa 15 Meter Luftline von ihm entfernt im Hause seines Bruders mit ihrer kleinen Tochter Emma, ebenfalls eine seiner Lieblingsfrauen, spielte. Zu diesem erlauchten Kreis zählte er auch Sabrina, seine sehr geschätzte Kollegin, die sich gerade in seiner Dienststelle am Pfaffplatz aufhielt und den Kriminaldauerdienst stellte.
Womit noch exakt zwei Lieblingsfrauen übrig blieben: Nämlich seine Lebensgefährtin Johanna von Hoheneck zu seiner Linken und der von beiden vergötterte Mischlingshund Kurt zu seiner Rechten. Obwohl Kurts Herrchen mithilfe eines hinterlistigen Tricks diesen Männernamen innerhalb der hundeverrückten Familie durchgesetzt hatte, war der imposante Vierbeiner natürlich nach wie vor eine Hundedame – und eine treue, sensible und extrem schmusebedürftige dazu.
Ein kleiner Stoß mit der nassen, kalten Schnauze an den Unterarm seines Herrchens sollte ihn darauf hinweisen, dass er die obligaten Streicheleinheiten unterbrochen und gefälligst wieder aufzunehmen hatte. Doch Tannenberg fand dafür nun keine Zeit mehr.
»Schluss jetzt«, polterte er, woraufhin Kurt sich beleidigt in sein Hundekörbchen zurückzog, das die Ausmaße eines mittelgroßen Küchentischs aufwies.
»Warum kackt der denn so total ab?«, rief Tannenberg in den Raum hinein. In diesem Augenblick hatte er die Anwesenheit seiner Lebensgefährtin offenkundig völlig vergessen.
»Du und deine Kraftausdrücke«, kommentierte Johanna postwendend.
»Entschuldige, Hanne, aber ich verstehe diesen Einbruch nicht. Der Doc hat mir noch vor Kurzem erzählt, dass Epo gerade am Berg wie ein Turbolader wirkt. Aber das, was ich hier sehe, erinnert mich eher an einen verstopften Auspuff.«
»Vielleicht hat dieses Zeug bei ihm nicht angeschlagen oder er hat zu viel davon abbekommen.« Johanna von Hoheneck warf die Stirn in Falten. »Ist das nicht dieser Junge, der seine erste Tour de France fährt?«
»Doch, genau der ist das.«
»Womöglich ist er einfach dem enormen psychischen Druck nicht gewachsen. Ich bin zwar kein Experte, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass bei Leistungssportlern sehr viel über den Kopf läuft. Und wenn der aus irgendwelchen Gründen nicht frei ist, kann es schon zu solchen Blockaden kommen, denke ich.«
Johanna zog die Schulterblätter nach oben und kehrte die Handflächen nach außen. »Wer weiß, vielleicht kommt es dann zu Muskelkrämpfen und Erschöpfungszuständen, die körperlich nicht erklärbar sind. Den Einfluss der Psyche sollte man nie unterschätzen.«
Tannenberg nickte zustimmend. »Kann sehr gut sein, dass du mit dieser Vermutung richtig liegst. Zumal bei dem
Weitere Kostenlose Bücher