Leise Kommt Der Tod
verfehlen. Am Briefkasten steht Sturgeon.«
»Oh, vielen Dank«, entgegnete Sweeney und erhöhte das Trinkgeld um einen Dollar. »War sie eine Freundin von Karen?«
Die Bedienung sah Sweeney an, als wäre sie nicht ganz gescheit. »Nein, sie ist Karens Schwester. Das ist das Haus, wo Karen aufgewachsen ist.«
Die Country Road schlängelte sich stadtauswärts einen kleinen Hügel hinauf. Zunächst standen die Häuser noch eng beieinander, sie waren im Kolonialstil erbaut, hier und da standen auch einzelne Wohnwagen dazwischen. Als sie weiterfuhr, wurden die Abstände zwischen den Häusern größer, und man sah eher alte Scheunen und Bauernhöfe. Schließlich kam sie an ein großes gelbes Bauernhaus mit ein paar Scheunen darum herum und einem Briefkasten mit der Aufschrift STURGEON. Sweeney parkte, und sogleich sprangen zwei alternde schwarze Labradore auf das Auto zu. Sie bellten wild, wedelten aber zugleich mit den Schwänzen. Als sie aus dem Wagen stieg, sah sie eine große Frau mit kurzem grauen Haar aus der Tür treten. Sie trug einen langen geblümten Rock, der am unteren Saum gerafft war wie der Petticoat einer Can-Can-Tänzerin.
»Es tut mir sehr leid, Sie zu stören«, begann Sweeney. »Aber ich würde gerne mit Ihnen über Ihre Schwester sprechen.«
»Über Karen? Weshalb?« Diana Sturgeon wirkte nicht verärgert, nur neugierig.
Sweeney nickte. Sie hatte sich im Auto eine Geschichte zurechtgelegt, die streng genommen nicht mal gelogen war. »Ich unterrichte an der Universität und beschäftige mich im Besonderen mit Koedukation. Daher interessiere ich mich für die
Lebensgeschichten von Frauen an der Universität zu verschiedenen Zeitpunkten. Entschuldigen Sie, mein Name ist Sweeney St. George.« Sie lächelte auf eine Art, von der sie hoffte, dass sie einladend wirkte.
Diana Sturgeon lächelte zurück, ihr Gesicht war so offen und vertrauensselig, dass Sweeney leichte Schuldgefühle bekam. »Ich spreche gerne über Karen«, sagte sie. »Warum kommen Sie nicht mit nach drinnen? Dort ist es schön kühl.«
Sweeney folgte ihr ins Haus, das tatsächlich kühl war und nach Steinen und nassem Hund roch. Es war schäbig, aber gemütlich, an den Wänden hingen bunte Quilts, über das Sofa und die Stühle waren weitere drapiert worden.
»Sind das Ihre?« Die farbigen Kattun- und Ginghammuster erfüllten den Raum mit Rot-, Blau- und Gelbtönen.
»Das ist mein Hobby. Ich mache sie für Freunde und verkaufe sie auch auf Kunsthandwerksmessen.« Ohne zu fragen, ob Sweeney es wollte, reichte sie ihr ein Glas Eiswasser. Sweeney stürzte es dankbar hinunter.
»Nun, sie sind wirklich hübsch.«
»Also, was wollten Sie wissen?«, fragte Diana. »Wie es der Zufall will, habe ich heute erst wieder an sie denken müssen. Im März jährt sich ihr Todestag.«
Sweeney entschloss sich dazu, gleich zum Punkt zu kommen. »Mir scheint, sie habe unter einer Art Druck gestanden und deshalb getan, was sie getan hat. Ich habe mit einer Frau gesprochen, die sie kannte, und sie sagte, Karen sei in den letzten Monaten vor ihrem Selbstmord depressiv gewesen.«
Sweeney stellte fest, dass Diana Sturgeon wohl zu den friedfertigsten Personen zählte, die sie je kennen gelernt hatte. Sie betrachtete Sweeney mit gelassener Miene. »Um ehrlich zu sein, bin ich nicht vollkommen davon überzeugt, dass es Selbstmord war. Das waren wir nie, Mom, Dad und ich.«
Sweeney setzte sich in ihrem Stuhl auf. »Was meinen Sie damit?«
»Es ist schwer zu erklären. Vielleicht hat jeder dieses Gefühl, der ein Familienmitglied durch Selbstmord verliert. Aber es passte einfach nicht zu ihr. Ich kann es nicht besser erklären. Es passte einfach nicht.«
»Haben Sie der Polizei davon erzählt?«
»Nein. Ich hätte nichts hinzufügen können, außer dem, was ich über Karen wusste. Und egal, was passiert war, es hätte sie nicht mehr zu uns zurückgebracht. Nicht dass wir katholisch wären, ich meine, falls es Selbstmord war, würde ich mich nicht an der Handlung selbst stören. Ich toleriere das Recht jeder Person, frei zu entscheiden, wie sie diese Welt verlassen will. Daher hatte ich nicht das Gefühl, Missverständnisse aus der Welt räumen zu müssen. Falls es überhaupt welche gegeben hat, um zum Anfang zu kommen.« Sie lächelte. »Ich wusste es nicht. Ich dachte es mir einfach. Ich glaube sehr stark an die Intuition, an die innere Wahrnehmung. Aber das Rechtssystem tut das nicht. Also bitte.«
»Was ist Karen Ihrer Meinung nach
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