Leise Kommt Der Tod
Erstaunlicherweise hatte er sich die Mühe gemacht, das einzige funktionierende Münztelefon im ganzen Block aufzusuchen und bis zum Eintreffen der Polizei bei der Leiche zu warten. Normalerweise wurde die Person, die einen Toten entdeckte, eingehend überprüft, aber in diesem Fall war klar, dass nichts dabei herauskommen würde. Dieser Mann war viel zu aufrichtig, um etwas zu verbergen - ein trauriger, arbeitsloser Typ mit dem einzigen Wunsch, sich endlich dem Inhalt seiner Papertüte widmen zu dürfen. Quinn war versucht, ihn seines Weges ziehen zu lassen, aber er konnte schlecht seinen einzigen Zeugen dazu ermutigen, sich volllaufen zu lassen, bevor er ordnungsgemäß befragt worden war.
Bevor die Leiche umgedreht wurde, rief er Ellie herbei und fragte sie spontan: »Ist dir aufgefallen, dass sie nicht hier getötet wurde?«
»Ja, der Plastiksack hat mich darauf gebracht.« Es klang nüchtern, nicht sarkastisch, trotzdem ärgerte er sich über die Bemerkung.
»Gut.« Er schob sich an ihr vorbei und kniete sich neben die Leiche. Das Gesicht der jungen Frau starrte in den grauen Himmel über ihnen. Sie hatte karamellbraune Haut, dunkles Haar, braune Augen und weibliche Kurven. Vermutlich war sie hübsch gewesen. Sie war stark geschminkt, die Grundierung zu dunkel gewählt, was ihre Gesichtskonturen hervortreten ließ. Ihre Wangenknochen waren auffällig mit Rouge betont, das Rosa ihrer Bluse wurde im Lidschatten wieder aufgenommen. Der pinkfarbene Lippenstift war auf einer Seite quer über das Gesicht verschmiert.
Der blaue Plastiksack, auf dem die Leiche deponiert worden war, war ein wichtiges Indiz für die Kriminaltechnik. Vielleicht befanden sich darauf Spuren, die einen Hinweis enthielten, wie der Sack - und die Frau - in die Gasse gelangt waren.
Wenn beide in einem Wagen transportiert worden waren, würden Stofffasern der Verkleidung oder Ölspuren daran haften. Haare oder Hautpartikel vom Täter könnten ermittelt werden. Im Falle einer Vergewaltigung, worauf bis jetzt vieles hindeutete, würden sie auf eine ganze Reihe wertvoller Spuren stoßen: Sperma, Haare, vielleicht sogar Hautfetzen unter ihren Fingernägeln.
Obwohl man den Täter mit allen Mitteln, die der Forensik zur Verfügung standen, suchen würde, war es dennoch wahrscheinlicher, dass er mit anderen Methoden ausfindig gemacht würde. Nämlich, indem man herausfand, wer die Tote war, was sie für ein Leben geführt hatte, wer ihre Freunde gewesen waren, was sie am Wochenende unternommen hatte und so weiter. Quinn hatte gelernt, dass man mit Kriminaltechnik allein keine Mörder aufspürte. Man brauchte sie erst, um den Täter festzunageln. Auf der Anklagebank landete man vielmehr dank traditioneller, altmodischer Polizeiarbeit.
Und der erste Schritt war, die Identität der Leiche herauszufinden. Quinn rief seinen Zeugen herbei und fragte ihn, ob er die Tote gekannt habe. Obwohl der Typ den Eindruck machte, er müsse sich gleich übergeben, brachte er würgend heraus: »Luz Ramirez. Ihre Familie wohnt dort drüben.« Er zeigte auf einen trostlosen Wohnblock schräg gegenüber.
»Okay«, wandte er sich an Ellie. »Das ist unsere erste Aufgabe. Wir müssen mit der Familie sprechen und herausfinden, wohin sie unterwegs war. Als Nächstes werden wir von Tür zu Tür gehen und die Leute fragen, ob sie letzte Nacht jemanden gesehen haben, das Übliche.« Er betrachtete erneut das Gesicht des Opfers. Je länger er sie ansah, desto jünger kam sie ihm vor. »Ihrer Kleidung nach hatte sie gestern etwas vor. Wir müssen dahinterkommen, mit wem sie sich treffen wollte.«
7
Olga Levitch goss das dampfende Wasser in die Teekanne und ließ den Tee ein paar Minuten ziehen. Dabei plante sie ihren Tag, wobei sie in Gedanken durch die Räume des Museums wanderte, die sie putzen musste, von oben nach unten, von hinten in Richtung Tür und - auf zum nächsten. Sie goss den fertigen Tee in ihre Thermoskanne und machte sich auf den Weg, um den Putzwagen zu holen. Obwohl es erst fünf Uhr morgens war, spürte sie, dass es wieder ein sehr heißer Tag werden würde. Sie sehnte sich nach Kühle und Entspannung, deshalb entschied sie sich für die Impressionisten. Sie würde ihre Teepause bei den Impressionisten verbringen.
Diese zwanzig Minuten waren für sie die schönsten des ganzen Tages: Für gewöhnlich legte sie ihre Putzutensilien in einer Galerie, die ihr besonders gut gefiel, zur Seite und nahm mit ihrem Tee in der Hand Platz, um die Kunstwerke in Ruhe
Weitere Kostenlose Bücher