Leise Kommt Der Tod
betrachten zu können. Nach mittlerweile siebenundzwanzig Jahren war ihr jedes Bild des Museums so vertraut wie der Anblick ihres eigenen Gesichts im Spiegel. Allein aus diesem Grund hatte sie nie den Job gewechselt, obwohl die Bezahlung schlecht war und sie sehr früh aufstehen musste. Wobei sie es eigentlich nicht als unangenehm empfand, schon um fünf anzufangen. In diesen dunklen Stunden, bevor sich das Personal im Gebäude einfand und die Türen sich für den Publikumsverkehr öffneten, konnte sie so tun, als wäre sie hier zu Hause. Als wäre es ihr eigener großer
Palast, und all die Kunstwerke gehörten ihr und waren einzig und allein dazu da, ihr Freude zu bereiten. Während des Staubwischens konnte sie fantasieren, dass sie ihre eigene Sammlung putzte, dass all die Bilder ihr Eigentum waren. Sie war fasziniert von der Fülle an Möglichkeiten, die Amerika bot. Es gab tatsächlich Leute, die es geschafft hatten, so reich zu werden, dass sie derartige Gemälde kaufen konnten - oder in einem Haus lebten, das wie ein Museum aussah. Natürlich hatte sie die Eremitage in St. Petersburg besucht, als sie noch in Moskau gelebt hatte, und sie erinnerte sich an das stolze Gefühl, das sie angesichts der Tatsache ergriffen hatte, dass Russland so wunderbare Schätze besaß. Aber sie hatte niemals auch nur im Entferntesten daran gedacht, diese Dinge selbst haben zu wollen. Dieser neue Wesenszug war eindeutig dem amerikanischen Einfluss zu verdanken: Er bewirkte, dass man Dinge besitzen wollte. Und dass man traurig wurde, wenn man sie sich nicht leisten konnte - jene Dinge, die man sich eigentlich gar nicht erst hätte wünschen sollen.
Sie fing im Keller zu putzen an, in dem höhlenartigen, mit Steinen verkleideten Raum, der die ägyptische Sammlung des Museums beherbergte. Da sie sich vor seiner gruftähnlichen Atmosphäre gruselte, versuchte sie, ihn so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie hatte etwas gegen steinerne Gewölbe, die auch dann noch genug Schatten warfen, um jemanden zu verbergen, wenn alle Lichter angeknipst waren. Da einige Stücke für die baldige Ausstellung nach oben geschafft worden waren, wirkte der Raum noch leerer als gewöhnlich.
Sie saugte Staub und fegte den Boden, dann beeilte sie sich, die Schaukästen und Vitrinen abzuwischen. Die Kunst hier unten hatte in ihren Augen noch nie besonders viel Sinn ergeben. Natürlich waren die Stücke interessant, außerdem sehr alt, aber sie waren einfach nicht schön. Sie hatten keine Wirkung auf sie, anders als die Kunstwerke aus den oberen Galerien, die
sie glücklich oder traurig machten, ihr ein beruhigendes Gefühl gaben oder sie erregten.
Hier unten würde Olga niemals ihre Teepause verbringen.
Es war mittlerweile fast sieben, und das Museum erwachte langsam zum Leben. Sie nahm den Aufzug in den ersten Stock und betrat die nächstliegende Galerie. Während des Putzens würdigte sie die flämischen Gemälde kaum eines Blickes.
Als sie gerade fertig war und ihre Ausrüstung auf den Putzwagen lud, um ihn zu den Galerien mit den Sonderausstellungen zu schieben, hörte sie im Korridor unter sich Schritte. Sie lehnte sich über das Balkongeländer und sah, wie unten Harriet Tyler, die Verwalterin der Sammlungen, in schnellem Schritt auf das Treppenhaus zusteuerte.
Olga manövrierte den Putzwagen im selben Moment in die Halle, als Harriet die Treppe heraufkam. Als sie Olga erblickte, erschrak sie, fasste sich mit einer Hand an den Kopf und schnappte hörbar nach Luft.
»Oh, hallo Olga. Tut mir leid, du hast mich erschreckt.«
»Hallo«, antwortete Olga und schob den Wagen an ihr vorbei. Es amüsierte sie, Harriet einen Schrecken eingejagt zu haben, schon allein wegen ihres Gesichtsausdrucks. Im Aufzug erlaubte sie sich für einen kurzen Moment, ihrem Ärger Luft zu machen. Manchmal kam das Personal schon vor sieben Uhr ins Museum. Aber seit längerem war es nicht mehr vorgekommen, und heute hatte sie sich besonders darauf gefreut, während ihrer Teepause allein zu sein. Warum konnte sie nicht wenigstens diesen einen Morgen für sich haben, war das zu viel verlangt? Aber so war es jedes Mal. Immer wenn sie sich wirklich wünschte, niemandem zu begegnen, kam irgendwer früher zur Arbeit und durchkreuzte ihre Pläne. Derjenige war natürlich genauso überrascht, sie zu sehen.
Die einzige Person, über deren Anwesenheit sie sich freute, war Mr. Keane. Mit ihm verstand sie sich wortlos. Wie sie selbst war auch er gerne allein, und wenn er
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