Leise Kommt Der Tod
früh ins Museum
kam, legte er Wert darauf, sich nicht mit ihr zu unterhalten. Ganz so, als ob er wüsste, dass ein einziges Wort genug war, um einen stillen, perfekten Morgen zu ruinieren. Wenn sie ihm auf dem Weg zum Putzraum oder im Treppenhaus begegnete, nickte er ihr stets zu, ohne ein Wort zu sagen. Es war wie eine stumme Übereinkunft zwischen den beiden. Wenn sie sich tagsüber begegneten, war er sehr höflich und sagte: »Guten Morgen, Olga«, oder »Einen schönen Nachmittag, Olga.« Sie mochte Mr. Keane.
Als sie mit der Galerie im obersten Stockwerk begann, wo die Gemälde des zwanzigsten Jahrhunderts ausgestellt waren, versuchte sie sich von ihrem Ärger freizumachen. Doch die seltsam anmutenden Bilder von Picasso und seinen Kollegen halfen nicht gerade dabei. Die hässlichen Fratzen mit ihren bohrenden Blicken erinnerten sie an die Geheimpolizei, die unangenehme Fragen stellte. »Wo waren Sie letztes Wochenende, Mrs. Levitch?« »Was ist mit Ihrem Ehemann geschehen, Mrs. Levitch?«
Sie setzte sich für einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Gerade war sie noch glücklich gewesen, jetzt dachte sie an die schweren Zeiten zurück, bevor sie nach Amerika gekommen war. Sie holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen, aber es war vergebens. Der Morgen war ruiniert.
Die nächste Stunde verbrachte sie damit, sich mit der Routine ihrer Tätigkeiten abzulenken. Es war kurz vor acht, als sie sich auf den Weg zum Anbau machte. Sie arbeitete sich zügig durch die Büros des Personals, saugte Staub und leerte die Papierkörbe. Manchmal warf sie einen Blick in die Schubladen der Schreibtische. Was sie dort so fand, war meistens interessant: Fotos von Menschen, die - wie Olga wusste - nicht die Partner der entsprechenden Personen waren, Spirituosen, Briefe, die verborgen an der Unterseite einer Schublade klebten. Olga nahm nie etwas mit. Sie wollte nicht, dass jemand von ihren heimlichen Aktionen erfuhr. Aber sie genoss
es, diese Dinge zu entdecken. Die Informationen waren wie wertvolle Münzen, die sie in der Hand hielt. Und sie konnte frei entscheiden, ob und wann sie sie ausgeben wollte.
Um neun beschloss sie, eine Pause zu machen. Sie nahm ihre Thermoskanne und ging zum Putzraum, um ein paar Kekse zu holen. Schon seit sie im Museum arbeitete, bewahrte sie eine Dose Buttergebäck versteckt im Wandschrank auf. Die saftigen dänischen Kekse gehörten zu den wenigen Dingen, die sie sich gönnte, und sie lebte in ständiger Angst, einer der anderen Angestellten könnte sie an sich nehmen, in dem Glauben, sie seien für die Allgemeinheit bestimmt. Sie verbarg die Dose hinter einem Stapel Klorollen. Ihr kleines Geheimnis, ein Lichtblick in ihrem Arbeitstag.
Sie nahm drei Kekse aus der Dose und wollte sich gerade auf den Rückweg zu den Galerien machen, als sie Schritte in der Halle hörte. Das Geräusch kam aus der Richtung der Lagerräume. Da sie keine Lust hatte, jemanden zu treffen, öffnete sie die Tür einen Spaltweit und spähte in die Halle.
Wenig später näherte sich jemand aus der Richtung der Lagerräume und stoppte vor Harriets Schreibtisch. Olga starrte auf den Korridor, stets darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, bis die Schritte sich wieder entfernten und der Gang leer war.
Sie nahm ihre Kekse und die Thermoskanne mit in die Galerie und dachte bei sich, dass die Dinge, die man am frühen Morgen mitbekam, sehr interessant waren. In der Tat. Sehr interessant.
8
Jeanne Ortiz lehnte sich zurück, kuschelte sich in das Sofa und betrachtete den nackten Körper von Trevor Ferigni, der sich gerade über die Stereoanlage beugte und eine neue CD einlegte, die er unbedingt hören wollte. Sie selbst mochte diese Art von Musik nicht - schräge, klirrende Metallgeräusche, fabriziert von Bands mit surreal klingenden Namen -, aber er war so begeistert davon, dass sie nichts dagegen einwenden wollte.
Trevor - oder Trev, wie ihn seine Freunde nannten - war ein neunzehnjähriger Zweitsemesterstudent aus Kalifornien, der sich bereits jetzt als Musikwissenschaftler sah. Außerdem hatte er im letzten Frühling einen Kurs über Gender Studies belegt, weil seine Mutter es so gewünscht hatte. Jeanne versuchte, nicht zu oft daran zu denken.
Sie hatte sich noch keine Gedanken über eine gemeinsame Zukunft gemacht, aber er war schon eifrig dabei. Es wäre zwar keine Katastrophe, wenn jemand von ihrer Beziehung erfahren würde, aber sie wollte es dennoch vermeiden. Sie wusste jedoch, dass er da anders dachte. Er
Weitere Kostenlose Bücher