Leise Kommt Der Tod
Karriere wohl entwickelt hätte, wenn er weiter unterrichtet hätte, anstatt bei Willem im Museum zu bleiben. Ihm wurde bewusst, dass er ein neunundvierzigjähriger Mann war, der immer noch bei seiner Mutter lebte. Unweigerlich musste er auch an die Entscheidungen denken, auf die er nicht stolz war, und an jene,
die ihn beschämten. Und er fragte sich, ob es all das tatsächlich wert gewesen war.
Seine Mutter saß in ihrem Rollstuhl im Wohnzimmer, als er hereinkam. Sie sah im Fernsehen die Aufzeichnung einer Natursendung an. Tad küsste sie auf die Wange und verfolgte einen Moment lang, wie ein Grizzlybär in einem Fluss in Alaska nach Lachs fischte.
»Sieh dir das an«, sagte sie, während der Bär seine Pfoten ungeschickt ins Wasser tauchte und kurz darauf einen zappelnden Fisch herauszog. »Man glaubt es kaum, wie geschickt er mit diesen großen Händen umgehen kann!« Sie trug einen ihrer lilafarbenen Bademäntel, den Gürtel um ihre breite Taille geschlungen. Ihr Gesicht war in den letzten Jahren gealtert, die Haut war schlaffer geworden, die Gesichtszüge wirkten aufgedunsen von den Medikamenten. Er suchte nach jener Schönheit, die er als kleiner Junge so an ihr bewundert hatte, und fand schließlich in ihren Augen ein Überbleibsel davon. Groß und braun-grün blickten sie ihn an, mit intelligentem Blick und ein klein wenig schüchtern.
»Pfoten, Mama.«
»Wie bitte?« Sie starrte wie gebannt auf den Bildschirm.
»Ach nichts.«
Seit dem letzten Jahr, als die Probleme mit dem Herzen anfingen, hielt sie sich immer häufiger in diesem Zimmer auf und sah fern. Fast hatte er den Eindruck, sie lebte nur noch durch die wilden Tiere, die in der Serengeti jagten oder in der Arktis fischten. Am liebsten mochte sie Sendungen über Vögel. Stundenlang konnte sie Falken und Adler beobachten oder tropischen Papageien dabei zusehen, wie sie vor einem klaren, blauen Himmel kreisten. Wenn Tad zu viel darüber nachdachte, wie es zu dieser Gewohnheit gekommen war, wurde er unendlich traurig. Er hatte alles Mögliche für sie getan, aber vom Rollstuhl konnte er sie nicht befreien.
»Na, hattest du einen schönen Tag, Mama?«, fragte er, legte
seine Aktentasche auf den Tisch im Flur und vergewisserte sich, dass die Pflegerin das Gas am Herd abgedreht hatte. Vor einigen Wochen war es einmal an gewesen, als er nach Hause gekommen war, die Dauerflamme dagegen ausgeschaltet. Er hatte die verantwortliche Pflegerin scharf zurechtgewiesen, aber trotzdem überprüfte er den Herd seitdem immer selbst.
»Oh ja, heute war Gloria hier. Gloria mag ich am liebsten. Sie hat mir von Jamaica erzählt, wo sie herkommt. Sie hat gesagt, die Brise, die dort vom Meer herüberweht, ist so süß, dass man am liebsten seinen Mund öffnen und sie aufessen würde. Ist das nicht eine wundervolle Beschreibung? Ich musste plötzlich wieder an die Reise denken, die dein Vater und ich damals auf die Bermudas gemacht haben. Weißt du noch? Du warst ungefähr fünf und bist so lange bei Tante Carol geblieben.«
Tad erinnerte sich nicht mehr daran, trotzdem sagte er: »Ja, klar. War es auf den Bermudas genauso, Mama? War die Meeresbrise dort auch so süß?«
»Aber natürlich. Genau daran erinnere ich mich noch am besten. Es war seltsam, wie Glorias Worte mir das alles wieder in Erinnerung gerufen haben, weißt du?« Das Programm hatte sie wieder gefangengenommen. Fasziniert beobachtete sie eine Grizzlymutter dabei, wie sie mit ihren beiden Jungen durch eine karge braune Landschaft strich.
»Ja.« Er griff nach dem Stapel mit Rechnungen, der auf dem Flurtisch lag, und blätterte ihn durch. Ein langer Umschlag von Mutters Versicherung war darunter. Seit Monaten stritt er sich mit ihnen herum, da sie eine Reihe von Rechnungen für den letzten Krankenhausaufenthalt seiner Mutter nicht übernehmen wollten. Normalerweise sollte die Versicherung diese Kosten tragen, aber sie stellten sich quer und behaupteten, dass er dazu verpflichtet sei zu zahlen, obgleich er nicht verstand, warum. Er riss den Umschlag auf und warf einen Blick auf die aktuelle Gesamtsumme am Ende der Rechnung: $34,246. Das war unmöglich. Vor sechs Monaten war der Betrag noch
halb so hoch gewesen. Allerdings hatte seine Mutter seitdem einen weiteren Krankenhausaufenthalt benötigt, und sie hatte auf ein Einzelzimmer bestanden, trotz der Einwände der Versicherung, dass sie dafür vermutlich nicht aufkommen würden. Er legte die Rechnung wieder hin und versuchte, nicht mehr an die Zahl zu
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