Leise Kommt Der Tod
denken. Die übrigen Briefe waren uninteressant, es handelte sich bloß um weitere Rechnungen und Kataloge, die seine Mutter immer begeistert durchblätterte. Schließlich fischte er einen Umschlag aus dem Stapel, der die Adresse der örtlichen Dachdeckerfirma trug. Er öffnete ihn und zog das Schreiben heraus. Während er die Zeilen las, wurde ihm immer unbehaglicher zumute.
»Was möchtest du zum Abendessen, Schatz?«, rief seine Mutter. Er blickte auf und sah den Abspann der Grizzlysendung über den Bildschirm laufen. In Wahrheit meinte sie: Was wirst du heute Abend für uns kochen? Er schluckte seinen Ärger hinunter und räusperte sich.
»Wonach steht dir der Sinn?«
»Ich weiß nicht. Wie wäre es mit diesem Hühner-Cordonbleu, das wir letzte Woche hatten? Ist davon noch etwas da?«
»Nein«, entgegnete er. »Aber ich kann uns schnell Hühnchen holen.«
»Das wäre lieb von dir«, sagte sie. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht. Wir können den Rest der Sendung über die Flamingos ansehen. Du magst doch Flamingos, oder?«
Er trat zurück ins Wohnzimmer. »Ja, hört sich gut an«, sagte er.
»Was hast du da für einen Brief in der Hand?«
»Oh. Der ist von dem Dachdecker, der sich letzte Woche unser Haus angesehen hat. In dem Untersuchungsbericht schreibt er, dass unser Dach auf der Nordostseite ziemlich kaputt ist. Die Schindeln müssten alle entfernt und ersetzt werden.«
»Oh mein Gott. Wie viel wird das nur kosten?«
»Vierzehntausend Dollar, sagt er.«
»Oh.« Sie blickte betreten drein, ihre Augen suchten seinen Blick. »Das ist sehr viel. Ist das okay, Tad? Können wir... können wir uns das überhaupt leisten?«
Die klare Antwort lautete natürlich nein. Vor einer Woche war Tad auf der Bank gewesen und hatte sich nach einem weiteren Kredit erkundigt, mit dem Haus als Sicherheit. So gesehen hatte es wenigstens ein Gutes, wenn die Immobilienpreise stiegen. Sein Ansuchen war abgelehnt worden, daraufhin hatte er zu Hause eine Liste mit all den Beträgen erstellt, die sie bereits an Schulden angehäuft hatten. Die Zahlen standen ihm noch deutlich vor Augen: $12,450 an Kreditkartenschulden, $19,000 für die medizinische Betreuung plus der heute eingetroffenen Rechnung. Und dann war da die Sache mit dem Dach. Was sollte er nur tun? Der Bankberater hatte ihm eröffnet, dass sie den abbezahlten Teil des Hauses bereits bis zur Obergrenze belastet hatten. Sein Ratschlag war gewesen, sich an einen Freund oder Verwandten zu wenden. Aber da gab es niemanden. Er hatte keine Freunde. Da war nur Willem.
Willem. Noch nie zuvor hatte er daran gedacht, ihn um etwas zu bitten. Aber plötzlich sah er einen Hoffnungsschimmer. Willem könnte ihm etwas Geld leihen.
Er nahm seine Autoschlüssel und die Brieftasche.
»Ich werde schon einen Weg finden, Mama. Mach dir keine Sorgen. Ich finde eine Lösung.«
12
Um halb sieben erreichte Sweeney Quinns Haus. Sie bezweifelte immer noch, dass ihr Überraschungsbesuch eine gute Idee war. Zumindest hätte sie vorher anrufen sollen, um sich zu vergewissern, dass er überhaupt zu Hause war. Sie wusste nicht, ob das verschwundene Kollier mit Karen Philips’ Tod und dem Einbruch im Museum zusammenhing, aber sie wollte es herausfinden. Und Quinn war der Einzige in ihrem Bekanntenkreis, der ihr dabei helfen konnte.
Die beiden hatten früher ein paar Mal zusammen Kaffee getrunken und Neuigkeiten ausgetauscht. Das war noch bevor Ian aus England herübergekommen war. Außerdem waren sie gemeinsam auf dem Begräbnis des kleinen Jungen, den sie letzten Herbst im Rahmen gemeinsamer Ermittlungen kennen gelernt hatten. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie Quinn während der Messe verstohlen betrachtet und festgestellt hatte, dass er ihr durch jene Erlebnisse in Concord wirklich ans Herz gewachsen war. Mittlerweile war er nicht nur eine oberflächliche berufliche Bekanntschaft, sondern ein Freund.
Sweeney hatte erwartet, dass sie in Verbindung bleiben würden. Aber seit Ian in die Staaten gekommen war, hatte sie ihn nicht mehr angerufen, und auf seine letzte Nachricht auf der Mailbox hatte sie nie reagiert. Sie war sich nicht sicher, ob es an Ian lag, aber vermutlich wollte sie sich nicht in Schwierigkeiten
bringen. Zwar hatte sie ihrem Freund von Quinn und von den Ereignissen in Concord erzählt, und bestimmt hätte er nichts gegen eine gelegentliche Tasse Kaffee mit Quinn einzuwenden gehabt. Aber nichtsdestotrotz hatte sie es bisher vermieden, sich bei ihm zu melden.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher