Leise Kommt Der Tod
parkte in der schmalen Auffahrt und klopfte an die Vordertür. Sämtliche Fenster des Hauses standen offen, und Sweeney hörte drinnen jemanden ein Lied singen. In melodischem, akzentuiertem Französisch. Sweeney schnappte ein paar Wörter auf, das Lied handelte wohl von einem Hasen und einer Schildkröte. Nachdem sie eine Minute gewartet hatte, klopfte sie erneut.
Die schöne Stimme gehörte einer großen Frau mit dunkler Haut und vielen geflochtenen schimmernden Zöpfen. Sweeney beobachtete sie wie gebannt durch die Fensterscheibe. Als die Frau sich ihr zuwandte, fiel Sweeneys Blick auf eine lange Narbe, die an einer Seite ihres Gesichts entlanglief. Stellenweise waren die Ränder noch offen, als ob die Wunde nicht genäht worden, sondern einfach von allein zugeheilt wäre. An diesen Stellen leuchteten die Wundränder rosafarben wie das Innere einer Muschel, und Sweeney musste sich dazu zwingen, nicht hinzustarren.
»Ja, bitte?«, fragte die junge Frau und öffnete die Tür. Megan hatte sich an ihre Beine geklammert und grinste Sweeney an.
»Hallo«, sagte Sweeney. »Ich möchte zu Tim. Ist er zu Hause?« Sie winkte Megan zu. »Hallo Megan. Du bist ja ganz schön gewachsen. Ich glaube nicht, dass du dich noch an mich erinnerst. Im letzten Herbst habe ich eine Weile auf dich aufgepasst.« Das kleine Mädchen strahlte sie an. Sie war kein Baby mehr, sondern zu einem niedlichen Kleinkind herangewachsen. Ihr rötlich blondes Haar war zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden. Sie hatte dieselben Augen wie Quinn: fast rund, strahlend blau und mit auffallend dichten Wimpern, die um einiges dunkler waren als ihr Haar.
»Er ist bei der Arbeit, kommt aber bald nach Hause.« Sie lächelte dezent. »Sind Sie eine Freundin von Tim?«
»Ja. Ich probiere es wohl am besten später noch mal.«
Die Frau zögerte, bevor sie freundlich hinzufügte: »Er hat vorher angerufen, dass er bereits auf dem Weg ist. Wollen Sie reinkommen und hier auf ihn warten?«
»Ja, gerne. Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.« Sie folgte der Frau nach drinnen, Megan tapste hinterher. »Ich bin übrigens Sweeney.«
»Okay. Ich glaube, ich habe von Ihnen gehört«, entgegnete die Frau. Sweeney fragte sich, was Quinn ihr wohl erzählt hatte. Nach kurzem Zögern sagte sie mit sanfter Stimme: »Mein Name ist Patience.«
Ihre Schritte verschluckten die leisen Worte, deshalb musste Sweeney noch einmal nachfragen. Als sie den Namen schließlich verstanden hatte, sagte sie mit einem offenen Lächeln: »Schön, Sie kennen zu lernen.«
Megan kletterte auf Patience’ Schoß und legte ihr die Arme um den Nacken, dann drehte sie sich um und warf Sweeney einen schüchternen Blick zu. Sweeney winkte ihr noch einmal lächelnd zu, woraufhin Megan etwas in Patience’ Ohr flüsterte.
»Wie bitte?«, fragte Patience, und das kleine Mädchen wiederholte seine Worte. Daraufhin fing Patience laut an zu lachen. »Rouge! Du meine Güte! Sie hat die Farbe Ihrer Haare als Rouge bezeichnet!« Megan grinste zu Sweeney hinüber.
Patience machte sich wieder daran, das Wohnzimmer aufzuräumen, während Sweeney mit Megan auf dem Boden spielte. Etwa zehn Minuten später hörten sie einen Wagen in der Auffahrt, kurz darauf ertönte Quinns Stimme. »Patience? Wer ist denn...?« Als er Sweeney auf dem Boden sitzen sah, wirkte er einen winzigen Moment lang besorgt, doch dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Hallo. Ich habe dein Auto nicht erkannt.«
»Ja, es ist neu«, entgegnete sie und blickte aus dem Fenster
zu ihrem glänzenden, hellblauen VW Jetta. Nur ungern hatte sie sich von ihrem uralten VW Rabbit getrennt, aber zuletzt war das Auto so vom Rost zerfressen gewesen, dass es jeden Moment auseinanderzufallen drohte. Sie fühlte sich immer noch komisch dabei, in einem schicken Neuwagen herumzufahren.
Er grinste sie an. »Das war auch wirklich an der Zeit. Habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht?« Er sah zu Patience hinüber, und beide nickten zustimmend. Seine Haut war stark gebräunt, das Haar sonnenblond. Die feinen Fältchen um die Augenwinkel waren heller als der Rest des Gesichts, als hätte er oft in die Sonne geblinzelt. Sweeney kam es so vor, als habe er auch etwas an Gewicht zugelegt. Oder hatte er angefangen zu trainieren? Jedenfalls wirkte sein Körper kompakter als in ihrer Erinnerung. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr nicht überdurchschnittlich attraktiv erschienen. Doch je besser sie ihn kennen lernte, umso mehr
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