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Leise weht der Wind der Vergangenheit

Leise weht der Wind der Vergangenheit

Titel: Leise weht der Wind der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarit Graham
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seltsam, dass zwei fast gleichaltrige Kinder dieselbe Krankheit haben. Joshs Erkrankung ist ungefähr ebenso weit fortgeschritten wie Annes.“
       Mary schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen. Sie konnte nur daran denken, dass sie Anne bald verlieren würde. „Wie lange noch?“, fragte sie leise.
       „Ein paar Tage, vielleicht noch zwei oder drei Wochen, länger wird es sicher nicht dauern", gab der Arzt traurig zu. „Es... tut mir leid, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann, eine kleine Hoffnung bringen auf Besserung. Aber es gibt keine." Er griff nach seiner Notfalltasche und ging zur Tür. „Sollte sich wider Erwarten noch etwas ändern, dann sagen Sie mir sofort Bescheid, gleich, wie spät oder wie früh es ist.“
       „Danke, Herr Doktor." Die junge Frau begleitete den Arzt noch ein Stück vom Haus weg bis zur Hauptstrasse. Dann stand sie da und schaute ihm nach, bis sie ihn in der Dunkelheit nicht mehr sehen konnte. Sie fürchtete sich davor, ins Haus zurückkehren und Anne beim Sterben zusehen zu müssen, ohne ihr helfen zu können.
       Sie fröstelte, ein kalter Wind strich über ihre nackten Arme. Also ging sie zurück, betrat leise das Haus und machte die Haustür zu, die nur angelehnt gewesen war. Im ersten Moment erschrak sie, denn sie war überzeugt davon gewesen, die Tür ins Schloss gezogen zu haben. Doch dann setzte sie sich in den alten Lehnstuhl, den sie damals mit dem Haus übernommen hatte. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. So träumte sie eine Weile vor sich hin, dachte an alte Zeiten, an die toten Eltern und auch an Matthew, dem Mann, mit dem sie ihr ganzes Leben teilen wollte.
       Dann jedoch konnte sie die Sorgen um die kranke Schwester nicht mehr unterdrücken. Hastig sprang sie auf und ging zu Annes Zimmer. Leise drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür nach innen auf. Zunächst konnte sie nichts erkennen. Doch dann gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Ein Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Das Bett war leer.
       „Anne, wo bist du?“, rief sie angstvoll und suchte alle Räume nach der Schwester ab. Doch sie fand sie nirgends. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass sie die Haustür vorhin nur angelehnt vorgefunden hatte.
       „Antworte endlich, Anne." Sie war den Tränen nahe. In ihrer Angst war sie nach draußen gelaufen und starrte in die Dunkelheit. Doch so sehr sie sich auch anstrengte und lauschte, sie hörte nur ihren eigenen aufgeregten Atem.
       Da lief sie los. Es gab nur einen Weg, den die Schwester wohl eingeschlagen haben musste, den Weg zu den Klippen. Doch eine innere Stimme warnte Mary davor, allein diesen Weg zu gehen. Sie musste zu Matthew, damit er sie begleitete, ihr beim Suchen half.
       Natürlich war Matthew sofort bereit, sie zu begleiten. Hand in Hand rannten sie los. Der Weg war schlecht und ziemlich steinig. Immer wieder stolperte Mary und war dankbar, dass da eine starke Hand war, die sie stets vor einem Sturz bewahrte.
       Endlich sahen sie in der Ferne die Klippen, die an dieser Stelle steil zum Meer hin abfielen. Hier war der Platz, von dem Anne immer erzählt hatte, wo sie sich mit ihrem Freund Josh traf.
       „Hoffentlich kommen wir nicht zu spät", keuchte Mary. Ihre Schritte wurden langsamer. „Vielleicht ist sie ja gar nicht hier.“
       „Wohin sollte sie sonst gegangen sein?“, fragte Matthew leise und blieb abrupt stehen. Gebannt starrte er zu den Klippen.
       Die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war sauber und klar. Sogar der Mond hatte sich aus seinem Versteck hervorgewagt und strahlte nun in seiner kühlen Schönheit. Das Meer rauschte und ein kalter Wind trieb kleine Salztröpfchen in die Gesichter der beiden Menschen.
       „Was ist, Matthew?“, fragte Mary atemlos.
       „Schau dort..." Der Mann deutete zu den Klippen auf der linken Seite. „Träume ich oder ist das Wirklichkeit?“
       Mary folgte der Richtung, die sein Finger zeigte. Wie gebannt starrte sie auf die Erscheinung, die ihr fast das Blut in den Adern stocken ließ. Auf dem größten Felsen tanzten im Schein des Mondes, wie von großen Scheinwerfern angestrahlt, zwei Mädchen. Mit anmutigen Bewegungen drehten sie sich um sich selbst, nahmen sich bei den Händen und ließen sich wieder los.
       „Du träumst nicht", sagte Mary leise. „Ich kann die Kinder auch sehen. Jetzt weiß ich, dass ich Anne verloren habe...“
    * * *
       Gregory Simpson hielt die Stille in seinem Haus nicht mehr

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