Leises Gift
dringend los, um Ben abzuholen. Ich will nicht zu spät kommen.«
»Ich könnte Sie mit dem Wagen zu Ihrem Pick-up bringen. Wo steht er?«
Er ließ ihre Hände los. »Zu Hause.«
»Zu Hause! Sie brauchen eine ganze Stunde, um von hier aus nach Hause zu fahren!«
»Eine halbe Stunde.« »Ich fahre Sie.«
Er legte die restlichen Meter zu ihrem Wagen zurück, und sie folgte ihm. »Ich muss allein sein, Alex. Für den Augenblick ertrage ich nicht noch mehr.« Er schloss sein Fahrrad auf und nahm es vom Ständer. »Ich werde Ihnen telefonisch ein Rezept anweisen, damit Sie schlafen können.«
»Diese Schlafmittel wirken bei mir nicht. Nicht mal Ambien.«
»Dann verschreibe ich Ihnen Ativan. Es wirkt mit Sicherheit – es sei denn, Sie wären bereits abhängig davon. Selbst wenn Sie nicht schlafen können, hilft es Ihnen, sich zu entspannen. Ist Walgreens Pharmacy okay? Das ist in der Nähe Ihres Motels.«
»Sicher.«
Er stieg auf sein Rad und streckte ihr die Hand hin. Als Alex sie mit beiden Händen ergriff, spürte er, wie sie zitterte.
»Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein!«, flehte sie ihn an. »Halten Sie sich vom Verkehr fern.«
»Keine Sorge. Ich kann auf mich aufpassen. Ich fahre jeden Tag mit dem Rad. Jetzt muss ich los. Wir sprechen uns später wieder.«
»Heute Abend?«
»Vielleicht. Aber morgen ganz bestimmt.«
»Versprochen?«
»Jesses!«
Alex biss sich auf die Unterlippe und blickte zu Boden. Als sie den Kopf wieder hob, war die Lederhaut ihrer Augen blutunterlaufen. »Ich stehe am Abgrund hier draußen, Chris, und das Gleiche gilt für Sie. Nur, dass Sie es noch nicht wissen.«
Er sah sie lange genug an, sodass sie sehen konnte, wie ernst er es meinte, als er antwortete: »Doch, ich weiß es.«
Sie wollte offensichtlich noch mehr sagen, doch ehe sie eine Gelegenheit dazu bekam, trat er mit aller Kraft in die Pedale und sprintete in Richtung des Friedhofstors davon.
22
Eldon Tarver verließ die I-55 South und steuerte seinen weißen Lieferwagen tief hinein ins heruntergekommene Gewerbegebiet im Süden von Jackson. Bald darauf befand er sich in einem Dschungel aus Aluminiumgebäuden mit den verschiedensten Handwerksbetrieben und den wenigen Gemischtwarenläden, die das Aufkommen von Wal-Mart und den anderen großen Selbstbedienungsmärkten irgendwie überlebt hatten. Sein Ziel war die alte Bäckerei, eines der wenigen Backsteingebäude in der gesamten Gegend. Sie war in den fünfziger Jahren erbaut worden und hatte die einst idyllische Gegend jeden Morgen mit den Düften von frisch gebackenem Brot und Brötchen erfüllt. Doch wie das gesamte Viertel war auch die Bäckerei in den späten 1970er Jahren einen langsamen Tod gestorben. Eine ganze Serie von Nachfolgern hatte es nicht geschafft, ein neues Geschäft auf die Beine zu bringen.
Dr. Tarver fuhr bis zum Tor des hohen Maschendrahtzauns, der den Parkplatz vor dem Gebäude umgab, stieg aus und sperrte ein schweres Vorhängeschloss an einer Kette auf. Er hatte befürchtet, dass irgendjemand Anstoß nehmen würde am Klingendraht, den er oben auf dem Zaun montiert hatte, doch niemand hatte sich gemeldet. Jeder wusste, dass diese Gegend an einer der höchsten Verbrechensraten in den gesamten Vereinigten Staaten litt.
Dr. Tarver schloss das Tor hinter dem Lieferwagen, doch er sperrte es nicht ab, denn er erwartete eine Lieferung.
In dieser Gegend war er nicht als Dr. Eldon Tarver bekannt, sondern als Noel D. Traver, DVM. Die Bäckerei war nach außen hin eine Hundezuchtanlage, die Beagles, Mäuse und Fruchtfliegen an Forschungsinstitute im gesamten Land lieferte. Weil der »Tierarzt Dr. Traver« keine Subventionen in Anspruch nahm, musste er sich auch nicht den vielen Vorschriften unterwerfen, die anderen Zuchtanlagen so viele Unannehmlichkeiten bereiteten. Das war auch notwendig, denn die Hundezucht war nur vordergründig, eine Tarnung für das, was tief unter der alten Bäckerei stattfand.
Tarver hatte die Bäckerei nicht nur wegen ihrer Lage gekauft. Er hatte sie gekauft, weil sich unter der Bäckerei eine der ausgedehntesten Bunkeranlagen befand, die er je gesehen hatte. Der frühere Besitzer der Bäckerei, ein rechter Fanatiker namens Farmer, hatte die ehemalige Sowjetunion genauso sehr gefürchtet, wie er sie gehasst hatte. Infolgedessen hatte er unter seinem Betrieb einen ausgedehnten Atombunker errichten lassen, der im Falle eines Falles nicht nur seine Familie, sondern auch ausgewählte Angestellte seines Betriebs hätte
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