Leises Gift
sein.
23
Chris arbeitete spät in der Nacht in seinem Studio, als er plötzlich bemerkte, dass er nicht allein war. Er hatte Filmmaterial durch den Computer laufen lassen und sich durch das Sichten und Schneiden des Videomaterials abgelenkt, während das Unterbewusstsein sich mit dem Problem befasste, welchen Schritt er als Nächstes unternehmen sollte.
Als er die Anwesenheit eines anderen Menschen im Studio spürte, war sein erster Gedanke, dass Ben aufgewacht sein könnte. Chris speicherte die Datei, an der er gerade arbeitete, und ging den Korridor entlang zum Hinterzimmer der umgebauten Scheune. In jeder anderen Nacht hätte er Ben zu Bett gebracht und wäre in sein Studio zurückgekehrt, um allein weiterzuarbeiten, doch Studio und Haus waren durch fünfzig Meter stockdunkle Nacht getrennt; daher hatte er an diesem Abend zugelassen, dass der Junge auf dem gleichen Sofa einschlief, auf dem Chris und Thora sich erst zwei Nächte zuvor geliebt hatten. Nachdem Ben tief und fest eingeschlafen war, hatte Chris ihn in das alte Doppelbett im Hinterzimmer getragen.
»Ben?«, rief er leise und öffnete die Tür.
Ben lag bäuchlings im Bett und schlief. Chris blieb für einen Moment starr stehen; dann huschte er zurück in den vorderen Raum und schaltete die Beleuchtung aus. Nachdem er zwanzig Sekunden aufmerksam gelauscht hatte, bewegte er sich zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Die Dunkelheit dahinter war leer. Nichts regte sich auf dem schwarzen Stück zwischen Studio und Haus. Chris fühlte sich ein wenig töricht, als er das Licht wieder einschaltete und zu seinem Computer zurückkehrte.
Er streckte eben die Hand nach dem Flywheel aus, als ein lautes Klopfen an der Studiotür ihn zusammenzucken ließ. Er hatte keine Schusswaffe hier draußen, nur einen Aluminium-Baseball- schläger, der an der Wand lehnte, zurückgelassen nach einer Trainingsstunde mit Schlagübungen. Er sprang auf, packte den Schläger und stellte sich vor die Tür.
»Wer ist da?«
»Ich bin es, Alex«, sagte eine Frauenstimme. »Alex Morse.«
Er riss die Tür auf. Alex stand in den gleichen Sachen vor ihm, die sie am Nachmittag auf dem Friedhof getragen hatte, und sie sah noch erschöpfter und verwirrter aus. In der Hand hielt sie eine Automatikwaffe.
»Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?«, herrschte Chris sie an. »Hätte ich eine Pistole hier draußen gehabt, hätte ich Sie womöglich erschossen!«
»Es tut mir leid, dass ich so hereinplatze. Ich habe versucht anzurufen. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich warten würde, aber … Könnten wir vielleicht hineingehen?«
»Die öffentliche Nummer läutet nur drüben im Haus.«
Alex nickte entschuldigend. Ihre Augen hatten noch dickere schwarze Ringe als zuvor. »Können wir reingehen?«, fragte sie noch einmal.
»Sicher.«
Sie schob Chris rückwärts nach drinnen und schloss hinter sich die Tür.
»Haben Sie überhaupt geschlafen seit unserer letzten Begegnung?«, fragte Chris.
»Nein. Ich habe das Medikament abgeholt, aber ich hatte Angst, es zu nehmen. Ich musste nach Jackson fahren, um meine Mutter zu sehen. Es geht schnell zu Ende mit ihr, aber sie war für kurze Zeit wach und hat nach mir gefragt.«
Chris bedeutete Alex, auf dem Sofa gegenüber seiner Workstation Platz zu nehmen. Als sie saß, rollte er auf seinem Bürosessel um den Schreibtisch herum und hielt vor ihr.
»Warum tragen Sie eine Waffe?«
Sie legte die Pistole neben sich aufs Sofa. »Das sage ich Ihnen gleich. Hat Thora heute Abend schon angerufen?«
»Ja, sicher. Sie amüsiert sich großartig. Sie und Laura haben heute Nachmittag Schlammbäder genommen.« »Wie lange ist der Anruf her?«
»Ich weiß es nicht. Schon eine Weile. Ben war noch wach.«
»Hat sie gefragt, ob Sie im Haus oder in Ihrem Studio sind?«
Chris lehnte sich zurück. »Das war nicht nötig. Mein privater Anschluss läutet nur hier im Studio. Was machen Sie überhaupt hier, Alex?«
»Ich bin von Jackson zurückgekommen, weil ich dachte, dass etwas passieren könnte, sobald Thora die Stadt verlassen hat. Ich beobachte Ihr Haus seit drei Stunden.«
»Warum? Und von wo aus?«
»Ich habe auf der anderen Straßenseite geparkt. Im Carport des zum Verkauf stehenden Hauses.«
»Und? Haben Sie etwas Verdächtiges gesehen?«
»Als ich auf das Gelände der Elgin eingebogen bin, kam mir ein Wagen entgegen. Der Fahrer hatte das Fernlicht an, aber ich konnte erkennen, dass es ein Lieferwagen war. Ein weißer Lieferwagen. Besitzt
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