Leises Gift
einzige Handfeuerwaffe war eine Achtunddreißiger in einem kleinen Safe im Kleiderschrank. Er holte die Waffe hervor; dann zog er eine Schachtel vom Kleiderschrank herunter, in der er alte Medikamente und Proben aufbewahrte, die er aus der Praxis mit nach Hause genommen hatte. Und tatsächlich – dort lag eine Flasche Ritalin, ein Medikament, das Ben mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals hätte nehmen dürfen. Chris schob die Flasche in seine Tasche, steckte Alex’ Glock in den Hosenbund und stellte die Schachtel auf den Schrank zurück. Dann verließ er das Haus und kehrte mit der Achtunddreißiger in der Hand in sein Studio zurück.
»Hier, nehmen Sie eine davon«, sagte er zu Alex. »Nehmen Sie eine weitere, sobald Sie merken, dass Sie wieder müde werden. Ich hole Ihnen Wasser.«
»Nicht nötig.« Sie nahm eine Pille und schluckte sie trocken herunter; dann schob sie die Flasche in ihre Tasche.
»Sie sind geübt im Schlucken von Tabletten, wie?«
Ein schiefes Grinsen. »Antibabypille.«
»Ah.«
»Nicht, dass ich sie in letzter Zeit gebraucht hätte.« Sie sah ihn verlegen an. »Zu viel Information?«
»Ganz im Gegenteil. Konzentrieren Sie sich darauf, wach zu bleiben.«
Sie nickte dankbar, nahm ihre Waffe wieder an sich und ging zur Tür. »Wir reden morgen weiter, okay?«
»Heute Nacht«, widersprach er. »Sie rufen mich an, sobald Sie sicher in Jackson angekommen sind. Rufen Sie vorher an, wenn Sie nicht wach bleiben können.«
»Mach ich. Aber ich komme zurecht, keine Sorge.«
Sie zögerte einen Moment, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann wandte sie sich ab und ging davon. Sekunden später wurde sie von der Dunkelheit verschluckt. Chris stand da und sah zu den Lichtern des Haupthauses, während er sich fragte, ob er allen Ernstes jemals weggehen würde, um zusammen mit Thora in Avalon zu leben. Selbst vor dem Auftauchen von Alex Morse war ihm die Vorstellung nicht ganz geheuer gewesen, doch jetzt erschien sie ihm durch und durch falsch. Er dachte an den Abend zurück, an dem er Thora über die Schwelle dieses Hauses getragen hatte, als in einiger Entfernung ein Wagen gestartet wurde. Der Motor drehte ein paar Mal leise hoch, dann verklang das Geräusch in der Ferne. Chris atmete die nächtliche, nach Frühling und Blüten duftende Luft in tiefen Zügen; dann drehte er sich um und kehrte ins Studio zurück.
24
Alex rollte aus der Auffahrt des Hauses gegenüber dem von Chris Shepard und bog nach links in Richtung des Highway 61. Bis zum Highway waren es gut anderthalb Kilometer, und ein großer Teil der schmalen Straße wand sich durch bewaldetes Gebiet. Alex war erleichtert, als sie keine fremden Scheinwerfer entdeckte. Auch parkten keine anderen Fahrzeuge in den wenigen Auffahrten, an denen sie auf dem Weg zum Highway vorüberkam.
Dort angekommen, bog sie nach Norden ab und passierte kurze Zeit später die St. Stephen’s School, dann einen Kilometer weiter das Days Inn. Sie überlegte kurz, ob sie anhalten und ihren Computer holen sollte, doch weil sie bereits vom Vortag frische Sachen in ihrer Reisetasche hatte, beschloss sie, ohne Pause weiterzufahren. Falls ihre Mutter in dieser Nacht starb, konnte sie sicher Onkel Wills PC benutzen, um notwendige E-Mails zu verschicken. Und falls Margaret Morse durch irgendein Wunder die Nacht überlebte, wäre Alex mit großer Wahrscheinlichkeit bereits am nächsten Mittag zurück in Natchez.
Als sie die Gabelung passierte, wo der Highway 84 in Richtung Mississippi River abzweigte, wurde ihr bewusst, dass sich ein Scheinwerferpaar an ihre Fersen geheftet hatte. Im ersten Moment dachte sie an einen Streifenwagen, denn das andere Fahrzeug war ganz unvermittelt aufgetaucht und hatte sich dann in einem gleichbleibenden Abstand hinter ihr gehalten. Wahrscheinlich funkte der Cop gerade ihre Nummer an die Zentrale. Nachdem sie die Lichter eine Weile im Rückspiegel beobachtet hatte, kam sie zu dem Schluss, dass sie zu hoch über dem Boden waren für einen Streifenwagen. Eher gehörten sie zu einem Pick-up oder einem Lieferwagen.
Sie passierte eine Baptistenkirche mit einem hohen Kirchturm auf der rechten Straßenseite. Dann kam eine Straßenbaustelle. Es gab nur noch eine Fahrbahn in jede Richtung, und der Highway 61 überquerte den Natchez Trace. Voraus zur Linken sah Alex bereits den Wal-Mart. Sie beschleunigte; dann riss sie den Corolla im letzten Moment herum und schoss quer über die Gegenfahrbahn auf den Parkplatz vor dem Supermarkt. Der Wagen
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