Leises Gift
letzte Morse auf der Welt, wenn ihre Mutter gestorben war. Wie Alex hatte Jamie sonst niemanden mehr. Warum wollte das Bureau das nicht begreifen?
Schließlich hatte Alex genug davon, passiv herumzusitzen. Sie nahm ihr Handy hervor und aktivierte den SMS-Modus. Wenn sie schon die nächsten vierundzwanzig Stunden Blut und Wasser schwitzen würde, dann wenigstens nicht allein.
Andrew Rusk besuchte eine Porno-Webseite im Internet und überlegte, ob er Janice ins Büro rufen sollte, damit sie ihm ein wenig persönliche Aufmerksamkeit widmete, als sein Mobiltelefon kurz summte – das Zeichen für eine hereinkommende Kurznachricht. Er wandte den Blick ab von der Menage à trois auf seinem Schirm – zwei Frauen und ein Kerl, Andys Fantasie seit der Highschool – und betätigte die Lesen-Taste seines Telefons. Ihm stockte das Herz, als er die blau unterlegten Worte auf dem kleinen Display las:
Du wirst bezahlen für das, was du getan hast. Es ist mir egal, wie lange es dauert. Ich werde dafür sorgen, dass du die Todesspritze kriegst, Andy. Für Grace Fennell. Für Mrs. Braid. Für all die anderen. Es ist mir egal, was aus mir wird. Nichts wird mich aufhalten. Nichts.
Fassungslos starrte Rusk auf die Textnachricht. Die Buchstaben schienen vor seinen Augen zu verschwimmen wie wabernde Luft über Wüstensand. Er sah nach dem Absender der SMS, doch die Nummer war verborgen. Es spielte keine Rolle. Andrew Rusk wusste genau, wer die Zeilen verfasst hatte.
Sein erster Impuls war aufzustehen und zwei Quadrate Silberfolie in sein nordöstliches Fenster zu hängen, doch die Vernunft ließ ihn zögern. Zum einen sah Dr. Tarver die Folie wahrscheinlich nicht vor heute Abend. Zum anderen war Tarver bereits zur Genüge aufgebracht wegen Alex Morse. Diese neue Entwicklung würde lediglich weiteres Öl ins Feuer gießen. Und je heißer dieses Feuer brannte, desto weniger war Rusks Leben wert.
»Was denkt sie sich dabei?«, überlegte er laut. »Warum schickt sie mir so eine Nachricht?«
Sie versucht mich zu provozieren. Als würde sie einen Stein in ein Gebüsch werfen, damit das Rascheln das Wild aufscheucht und es dem Jäger vor die Flinte treibt. Das bedeutet, dass irgendjemand beobachtet, in welche Richtung ich springe. Irgendjemand wartet darauf dass ich ihn irgendwohin führe.
»Bleib ruhig«, murmelte er. »Ganz ruhig.«
Rusk spielte mit dem Gedanken, Tarver eine ihrer vorbereiteten Viagra-Spam-Mails zu schicken. Tarver würde sie wahrscheinlich im Lauf der nächsten Stunde erhalten und sich auf den Weg zu dem Country Club machen, wo Rusk normalerweise die Unterlagen für eine Operation hinterlegte. Annandale war exklusiv genug, dass er dort sogar eine kurze Unterhaltung mit Tarver riskieren konnte. Andererseits konnte er nicht wissen, wie der Doktor reagieren würde. Er musste nachdenken, bevor er irgendetwas unternahm. Falls Alex Morse die volle Unterstützung des FBI bei dieser Aktion hatte, bot der übliche Übergabeort nicht den geringsten Schutz.
»Bleib ruhig«, sagte er sich erneut. Dann, mit noch leiserer Stimme: »›Hast du die Geduld, nichts zu unternehmen?«‹ Rusk war kein Geisteswissenschaftler, doch er hatte während seiner Zeit am College das Tao Te Ching gelesen – hauptsächlich, um eine Hauptfach-Englisch-Studentin zu beeindrucken, die er damals gevögelt hatte –, und diese Zeile hatte sich ihm eingeprägt. Die beste Zeit, nichts zu tun, war natürlich dann, wenn der Gegner im Begriff war, einen großen Fehler zu machen oder ihn bereits begangen hatte. Doch Alex Morse hatte in letzter Zeit keine Fehler gemacht, von denen Rusk wusste. »Von denen ich weiß«, wiederholte er nachdenklich.
Er nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer einer Detektivagentur, mit der er gelegentlich zusammenarbeitete. Sie waren teuer, doch sie hatten mehrere ehemalige Agenten von Regierungsbehörden in ihren Diensten. Einige waren beim IRS gewesen, andere bei der DEA oder dem BATF, und ein paar hochbezahlte Spezialisten waren sogar ehemalige Spezialagenten des FBI.
»Es ist an der Zeit herauszufinden, was Spezialagentin Alex Morse wirklich gegen mich in der Hand hat«, murmelte er.
Chris war in einem Behandlungszimmer und untersuchte eine Prostata-Drüse, als Jane ihn nach draußen rief, um Dr. Connollys Anruf entgegenzunehmen. Chris riss sich den Latexhandschuh herunter, eilte in sein Büro und schloss hinter sich die Tür.
»Pete? Ich bin es, Chris Shepard.«
»Hey, alter Junge! Wie lange
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