Leises Gift
Holly, seine Helferin. Bis er wieder an seinem Schreibtisch war, hatte das Video Gott sei Dank geendet, und der Bildschirm war gnädigerweise schwarz geworden. »Was gibt’s denn?«, rief er, wohl wissend, dass sein Gesicht wahrscheinlich rot vor Wut war.
»Ist alles in Ordnung?«
»Sicher. Kommen Sie rein.«
Er erhob sich und ging erneut ins Bad, wo er ein Handtuch nass machte und sich das Gesicht abwischte. »Ich bin ein wenig müde, das ist alles.«
»Kann ich Ihnen nicht verdenken. Ständig der viele Baseball abends. Ich bin selbst ebenfalls ziemlich erledigt.«
Als Chris sich umdrehte, saß Holly vor seinem Computer und fächelte sich mit einem Magazin kühle Luft zu. Wenn sie die Maustaste klickte, würde das Balkonvideo erneut ablaufen. Er trat hinter sie und massierte ihre Schultern, was sie überraschte, aber auch dazu beitrug, dass sie sich schneller aus seinem Stuhl erhob. Sein einziger Gedanke war, so schnell wie möglich selbst in den Stuhl zurückzukehren, um auszuschließen, dass dieser Albtraum erneut abgespielt wurde.
»Ich habe mir die Ergebnisse von Mrs. Young angesehen«, sagte Holly. »Haben Sie sie auch schon gesehen?«
»Nein.«
Sie musterte ihn wortlos. Dann sagte sie zögernd: »Nancy hat die Röntgenaufnahmen von Mr. Martin fertig. Er wartet schon seit einer ganzen Weile in Zimmer Nummer drei.«
»Ich komme ja schon!«, fauchte Chris.
Hollys Unterkiefer sank herab. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.
Ein morbider Teil seiner Persönlichkeit wollte das Video erneut abspielen, doch er widerstand diesem Verlangen. Sein Verstand war erfüllt von Bildern aus der Zeit, als ihm Thora Rayner in einer Krankenstation im St. Catherine’s Hospital zum ersten Mal aufgefallen war. Das Video, das nun auf seiner Festplatte lag, schien unbegreiflich im Hinblick auf all die Dinge, die sie seit jenem Tag gemeinsam erlebt hatten. Wie konnte die Frau, die sich so hingebungsvoll um ihren sterbenden Mann gekümmert hatte, so leichtfertig die neue Beziehung aufs Spiel setzen, die sie mit Chris eingegangen war? Wie konnte sie einen Vater einfach so wegwerfen, der sich so innig mit ihrem Sohn verbunden fühlte? Es überstieg sein Begriffsvermögen. Die Verleugnung, die seit Alex Morses Auftauchen langsam bröckelte, lag endgültig in Trümmern zu seinen Füßen. Doch nicht Wut hatte sie ersetzt. Er war direkt zu Trauer weitergeschritten, einem unerträglichen, schweren Schleier, der eine paralysierende Taubheit mit sich brachte.
Sein Handy läutete erneut. Wieder Alex.
Er nahm das Telefon auf, nahm das Gespräch aber nicht an – eine infantile Reaktion. Er konnte sich keine Betäubung leisten. Jeden Augenblick würde Holly erneut an seine Tür klopfen. Die Patienten warten. Außerdem saß Ben vorne und spielte Computerspiele, doch in Wirklichkeit wollte er nichts lieber, als mit seinem Dad nach Hause fahren. Seinem Dad?, dachte Chris. Ich bin nicht sein Dad. Nicht wirklich. Er ist nicht mein Fleisch und Blut. Ich habe ihn gesetzlich adoptiert, aber was würde bei einer Scheidung passieren? Ich weiß, was Ben sich wünschen würde, so verrückt es auch scheint. Selbst Thora hat eingeräumt, dass sein neu erwachtes Glück und seine verbesserten Noten in der Schule wohl daher rühren, dass ich in sein Leben getreten bin. Aber was würde ein Scheidungsrichter sagen?
Das Telefon hörte zu läuten auf. Chris bewegte sich, als wäre er unter Wasser. Er öffnete das Klapptelefon und drückte die Taste, die ihn direkt mit Alex Morse verband. Sie antwortete beim ersten Klingelzeichen.
»Ist alles okay?«, fragte sie besorgt. »Es muss schlimm gewesen sein, das zu sehen.«
»Jepp.«
»Es tut mir leid, Chris.«
»Tatsächlich?«
»Aber natürlich. Mir geht es nur um Sie und Ben bei dieser Sache.«
»Das stimmt nicht. Sie wollen Andrew Rusk festnageln.« Das brachte sie vorübergehend zum Schweigen.
»Zugegeben«, sagte sie schließlich. »Aber nicht aus billigen Rachemotiven heraus. Es ist für Grace, für Sie und für all die anderen Menschen, deren Leben zerstört wurden.«
Chris sagte nichts. Er wartete auf ein neues Argument von ihrer Seite, doch es kam nichts. Sie wartete ebenfalls schweigend. Er wollte etwas sagen, als sie ihm zuvorkam. »Was immer Sie jetzt tun, bitte sagen Sie Thora nicht, dass Sie Bescheid wissen.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Das haben wir bereits besprochen.«
»Aber die Sachlage hat sich geändert. Hören Sie, Chris.
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