Leises Gift
siebenhundert Meter sprangen Rudel von Rotwild panisch unter den Schutz der Bäume.
Ein warmer, beständiger Nieselregen setzte ein. Landmarken glitten vorbei wie ein Film ohne Tonspur: Loess Bluff mit seiner ständig weiter erodierenden Böschung aus magerem Erdreich, der Naturholzzaun, der die Ranger Station von Mount Locust umgab, die Hochbrücke über den Cole’s Creek, von wo aus man bis nach Low Water Bridge sehen konnte, womit Chris eine Reihe seiner glücklichsten Kindheitserinnerungen verband. Nach Überqueren der Hochbrücke wurde es ernst. Er stemmte sich in die Pedale, als wollte er bei der Tour de France mitfahren, in dem wilden Bemühen, die aufgestaute Unruhe der letzten achtzehn Stunden abzutrainieren. Das Dumme war – man konnte eine aufgestaute Unruhe, die aus Umständen außerhalb der persönlichen Kontrolle entsprang, nicht abtrainieren. Agentin Alex Morse war definitiv nicht unter seiner persönlichen Kontrolle. Chris fuhr bis ganz zum Ende dieses Abschnitts des Natchez Trace, bevor er eine Kehrtwende machte und in Richtung Südwesten zurückfuhr.
Aus dem leisen, beständigen Surren der Reifen auf dem nassen Asphalt erwuchs ein leises Zirpen. Er brauchte ein, zwei Sekunden, bis er den Klingelton seines Mobiltelefons erkannte. Die Hälfte der Zeit hatte er keinen Empfang hier draußen – einer der Gründe, warum er den Natchez Trace für seine Fahrten ausgewählt hatte.
Vorsichtig tastend griff er nach hinten und zog sein Mobiltelefon aus der Goretex-Tasche, die unter dem Sattel hing. Auf dem Display stand UNBEKANNTER ANRUFER. Chris wollte den Anruf bereits ignorieren und das Handy in die Satteltasche zurücklegen, doch wegen der frühen Morgenstunde bestand die Möglichkeit, dass einer seiner Krankenhauspatienten in Schwierigkeiten war. Vielleicht war es sogar Tom Cage, der wegen dem mysteriösen Fall anrief.
»Dr. Shepard hier«, meldete er sich mit sachlich-professioneller Stimme.
»Hallo, Doktor«, antwortete eine merkwürdig vertraute Stimme.
»Darryl?«, fragte er. Er war fast sicher, dass er die Stimme seines alten Bruders aus der Studentenverbindung wiedererkannte. »Darryl Foster?«
»Verdammt, ja!«
»Du hast also meine Nachricht endlich bekommen?«
»Gerade eben. Ich weiß, es ist noch früh am Tag, aber ich dachte mir, du hast dich nicht sehr verändert seit unseren College-Zeiten. Immer der Erste auf den Beinen, selbst mit einem Kater vom Vorabend.«
»Ich freue mich, dass du anrufst, Mann.«
»Tja, der Name, den du erwähnt hast, hat mich aufgeweckt. Warum um alles in der Welt fragst du mich nach Agentin Alex Morse? Hast du mit ihr zu tun oder was?«
Chris überlegte, wie viel er verraten sollte. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich im Moment lieber noch nicht darüber reden.«
»Wooo-wooo-wooo!«, sagte Foster spöttisch. »Meinetwegen. Also, was willst du über Morse wissen?«
»Alles, was du mir verraten kannst. Ist sie tatsächlich beim FBI?«
»Sicher. Oder zumindest war sie es. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht sicher, wie ihr gegenwärtiger offizieller Status ist.«
»Warum nicht?«
»Ich kenne die Lady nicht persönlich, Chris. Deswegen musst du alles mit Vorsicht genießen, was ich dir erzähle. Alex Morse war ein Star beim FBI. Eine Senkrechtstarterin, wie sie im Buche steht. So ähnlich wie du damals im College. Einsen in jedem Fach, und immer mehr getan als nötig. Sie hat sich als Geisel-Unterhändlerin einen Namen gemacht. Sie soll sogar die Beste gewesen sein. Sobald es irgendeinen Fall von großem öffentlichem Interesse gab, oder wenn im Gegenteil nichts nach draußen dringen durfte, ließ der Direktor sie einfliegen, um die Angelegenheit zu klären.«
»Du redest in der Vergangenheitsform.«
»Ja. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber vor ein paar Monaten hat Morse die Nerven verloren, und jemand wurde getötet.«
Chris hörte auf zu strampeln. »Wer?«, fragte er, wobei er sich vom Schwung weitertragen ließ. »Eine Geisel?«
»Nein. Ein Kollege von ihr. Ein anderer Agent.«
»Wie ist es passiert?«
»Angeblich war es eine extrem angespannte Geisel-Situation, und Morse ist ausgeflippt. Das Geisel-Rettungsteam – so was wie unsere SWAT-Einheit – bekam den Befehl zum Zugriff, aber Morse kam nicht damit klar. Sie rannte zurück zum Geiselnehmer – allem Anschein nach, um weiter zu verhandeln –, und plötzlich ballern alle los. Ein Agent namens James Broadbent wurde von einer Ladung grobem Schrot in die Brust
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