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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Volumen als eine der Standard-Insulinspritzen in Braids Schublade – das Zwanzigfache seiner üblichen Dosis. Tarver nahm zehn Ampullen aus der Schublade und füllte mit ihnen die Spritze bis zum Anschlag. Um die Scharade zu vervollständigen, die später folgen würde, zog er außerdem zwei von Braids Spritzen auf. Wenn man die Spritzen in einer Hand hielt, sahen sie aus wie die Fänge einer kybernetischen Schlange.
    Eldon streckte die Hand nach dem Türgriff aus und lauschte erneut. Er vernahm das leise Rauschen von Wasser. Er musste sich beeilen. Wenn Braid aus der Dusche kam und ihn sah, kam es möglicherweise zum Kampf, obwohl der Mann betrunken und selbstmordgefährdet war. Tarver durfte also nicht auf ein passives Opfer hoffen. Im Angesicht des Todes brachten manche Möchtegern-Selbstmörder es fertig, ein Dutzend Männer umzubringen, um sich zu retten.
    Tarver drehte den Türknauf und drückte die Tür mit einer behandschuhten Hand auf. Er hörte das Geräusch der Türkante auf dem Teppich. Das Badezimmer war groß, doch es war zugleich voller Dampf. Braid hatte vergessen, die Belüftung einzuschalten. Er scheint das Wasser sehr heiß gedreht zu haben. Er ist so besoffen, dass er nichts mehr merkt.
    Tarver verspürte ein intensives Gefühl der Befriedigung. Dieses Szenario war weit besser als sein ursprünglicher Plan. Schlafgas hinterließ für bis zu sechsunddreißig Stunden einen nachweisbaren Rückstand im Gewebe (wenn man wusste, wonach man zu suchen hatte) und rief bei manchen Menschen allergische Reaktionen hervor. Diese Methode hier zog kein derartiges Risiko nach sich. Sie erforderte lediglich eiserne Nerven.
    Tarver legte die beiden kleineren Spritzen auf die Ablagefläche und postierte sich links von der Duschtür. Hinter dem mattierten Glas schwankte ein blasser, schwammiger Schemen im Dampf. Tarver vernahm vier schnaufende Atemzüge, gefolgt von einem Aufstöhnen, was in ihm den Verdacht weckte, dass Braid entweder urinierte oder sich selbst befriedigte. Einen Moment später bestätigte ein starker Geruch, dass Braid pinkelte.
    Es brauchte mehr als Urin in der Dusche, um Abscheu in einem Pathologen zu wecken, doch Tarver verspürte ihn dennoch. Nicht wegen der körperlichen Bedürfnisse, sondern wegen der Schwäche, die Braid offenbart hatte. Der Mann hatte beschlossen, ein neues Leben anzufangen, und dann hatte sich herausgestellt, dass er zu schwach war, um sich seinen Wunsch zu erfüllen. Braids Gedankengänge waren Tarver unbegreiflich. Warum hatte der Mann schlappgemacht? War er zu der Erkenntnis gelangt, dass es okay sei, seine Frau rasch zu töten, während er sich einer Todsünde schuldig machte, wenn sie beim Sterben lange litt?
    Eilig, wieder aus dem Haus zu kommen, schob Tarver zwei behandschuhte Finger hinter den Edelstahlgriff der Duschtür. Dann kniete er nieder, öffnete die Tür und rammte seine Nadel in eine deutlich vorspringende Vene in Braids Unterschenkel.
    Braid zeigte keinerlei Reaktion.
    Tarver hatte ihm fast die ganzen zehn Milliliter Insulin injiziert, ehe Braid zuckte, als hätte er einen elektrischen Schlag abbekommen. »W-wa.s …?«, ächzte er. Es erinnerte Tarver an jenen Tag, als sein Adoptivbruder einer Kuh das Taschenmesser in die Seite gerammt hatte. Zuerst gar nichts. Dann war die Kuh drei Schritte davongetrottet und hatte ihn in stummer Verständnislosigkeit angegafft. Hatte Braid die Nadel überhaupt gespürt? Oder war es der Luftzug, der ihn aufgeschreckt hatte?
    Es war der Luftzug! Braid streckte blind tastend die Hand aus, um die Duschtür wieder zu schließen. Entweder litt er an Diabetikerneuropathie, oder er war tatsächlich sturzbetrunken.
    Bevor die Tür sich schließen konnte, streckte Tarver eine Hand hinter Braids Knöchel und riss ihm die Beine unter dem Leib weg. Braid ging schwer zu Boden, knallte mit dem Kopf gegen einen gefliesten Sitz und brach sich wahrscheinlich die Hüfte. Nach einer Minute, in der er stöhnend dalag, versuchte Braid sich hochzustemmen, doch sein linkes Bein wollte das enorme Gewicht nicht tragen.
    Tarver glitt rückwärts von der Duschtür weg und setzte sich auf die Kommode hinter eine niedrige Abtrennung. Welche Verletzung Braid bei seinem Sturz auch davongetragen hatte – der Schmerz war stark genug, um sich durch den benebelnden Alkohol zu brennen. Braids Stöhnen steigerte sich zu panischen Schreien. Eine dicke weiße Hand kam aus der offenen Duschtür und umklammerte den gefliesten Rand der Duschtasse. Für einen

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