Leises Gift
berühmter Gefäßchirurg gewesen und hatte daher einen Grund für seine Arroganz. Shane Lansing auf der anderen Seite war ein Feldscher, ein gewöhnlicher Handwerkschirurg, der sich für seinen Beruf nicht mehr interessierte als für sein Golfspiel. Er grinste jetzt, und Thora winkte ihm, als wäre Lansing ein Verwandter, den sie lange nicht gesehen hatte.
»Wink, Chris!«, drängte sie und versetzte ihm einen Stoß in die Seite.
Leck mich, dachte Chris so inbrünstig, dass er es beinahe laut gesagt hätte. Er neigte den Kopf leicht in Lansings Richtung; dann wandte er sich demonstrativ wieder dem Spielgeschehen zu.
»Was ist los mit dir?«, fragte Thora.
»Nichts.«
»Ich dachte, du magst Shane?«
»Ich hatte das Gefühl, dass er dir zuwinkt und nicht mir.«
Sie sah ihn eigenartig an. »Was ist nur los mit dir? Was hast du?«
»He, Ben«, sagte Chris, wobei er seine Geldbörse zückte und dem Jungen zwei Dollar gab. »Geh mir Popcorn holen, ja?«
»Ach, Dad! Vor dem Stand stehen die Leute Schlange!«
»Mach schon.« Chris gab ihm das Geld und versetzte ihm einen Schubs. Ben stand auf und ging niedergeschlagen die Stufen hinunter.
»Hast du eigentlich Lansing schon mal draußen in Avalon getroffen?«, fragte Chris in beiläufigem Tonfall.
»Sicher, erst heute«, antwortete Thora ohne zu zögern.
Die Antwort verblüffte Chris so, dass er nach Worten suchte. »Heute?«
»Ja. Er kam auf dem Heimweg zum Mittagessen auf die Baustelle.« »Warum?«
»Zum einen, um sich das Haus anzusehen.«
»Und was noch?«
Zum ersten Mal blickte Thora unbehaglich drein. »Ich wollte eigentlich schon längst mit dir darüber reden. Aber du warst so beschäftigt in letzter Zeit …«
»Worüber reden?« Chris spürte, wie er rot anlief. »Worüber wolltest du schon längst mit mir reden, Thora?«
»Meine Güte, Chris, was ist denn los mit dir? Shane hat mich gefragt, ob ich für ihn arbeiten würde, das ist alles.«
Chris wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Nichts auf der Welt hätte ihn mehr überraschen können. »Für ihn arbeiten? Was soll das heißen? Was sollst du für ihn machen?«
»Du darfst mit niemandem darüber reden, okay? Shane plant ein großes ambulantes Chirurgiezentrum. Es wird mit den einheimischen Krankenhäusern im Wettbewerb stehen, deswegen kannst du dir sicher vorstellen, welchen Wirbel es verursachen wird.«
Die Vorstellung, dass Lansing ein privates medizinisches Unternehmen plante, überraschte Chris nicht weiter. Shane Lansing gehörte zu der neuen Sorte von Ärzten – sie fingen bereits an, ihre Imperien zu errichten, sobald sie legal das Recht erworben hatten, den Doktortitel zu führen. Doch warum Lansing wollte, dass Thora in diesem chirurgischen Zentrum für ihn arbeitete, entzog sich seinem Verständnis.
»Was sollst du für ihn tun?«
»Das Personal beaufsichtigen. Hauptsächlich die Schwestern und Techniker.«
»Aber …«
»Aber was?«
»Du bist Multimillionärin, Thora. Warum solltest du als Oberschwester arbeiten?«
Thora lachte, und in ihren Augen blitzte es. »Ich habe nicht gesagt, dass ich den Job annehme.«
»Denkst du darüber nach?«
Sie blickte hinunter aufs Spielfeld. »Ich weiß es nicht. Manchmal fühle ich mich schrecklich gelangweilt in meiner Rolle als Yuppie-Hausfrau.«
Chris schwieg.
Sie sah ihn erneut an, und diesmal ließ sie ihr wahres Selbst durchscheinen. »Was denkst du gerade?«
»Ist das Lansings einziges Interesse an dir?«
Thora lachte erneut. »Was willst du damit sagen?«, fragte sie, doch das Flackern in ihren Augen verriet ihm, dass sie genau wusste, was er meinte.
»Sei bitte aufrichtig.«
Ihr Lachen verklang. »Shane ist verheiratet.«
»Und wenn er es nicht wäre?«
Schweigen. »Jetzt komm schon, Baby«, sagte Thora schließlich. »Das meinst du doch nicht im Ernst?«
»Shane hatte allein im letzten Jahr drei Affären, von denen ich weiß.«
»Das ist Geschwätz!«, sagte sie wegwerfend. »Du kennst diese Stadt.«
»Das Geschwätz dichtet ihm sechs oder sieben Krankenschwestern im vergangenen Jahr an. Die drei, von denen ich rede, sind Tatsache. Er musste zwei der Frauen bezahlen, damit sie ihn in Ruhe ließen.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Thora nachdenklich.
»Ehrlich nicht?«
»Ich gehöre nicht zum Krankenhaus-Verteiler, das weißt du selbst sehr genau.«
Chris richtete seine Aufmerksamkeit auf das Spiel. Thoras Enthüllung eines Jobangebots hatte ihm die Sprache verschlagen. Konnte das die Erklärung
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