Leises Gift
Moment befürchtete Eldon, der fette Mann könnte aus eigener Kraft die Dusche verlassen, doch in diesem Augenblick begann das Insulin zu wirken. Die Finger erstarrten, die Schreie wurden leiser, wichen erneutem Stöhnen.
Dann Stille.
Bald würde das Koma einsetzen.
Dr. Eldon Tarver erhob sich, warf die beiden unbenutzten Spritzen in die Dusche, gefolgt von den leeren Ampullen aus der Schublade. Anschließend kam der wirklich unangenehme Teil der Arbeit. Ehe er das Haus verließ, musste er es von oben bis unten durchsuchen, einschließlich der Computer. Er durfte nicht riskieren, dass William Braid irgendeine Form von Geständnis hinterlassen hatte.
Er ging zur Duschkabine, beugte sich vor und hob ein Augenlid von Braid hoch. Die Pupille war weit und reglos. William Braid war bereits weit auf dem Weg zum verstandlosen Gemüse – falls er auf seiner Reise nicht am Schock starb. Zum ersten Mal seit vielen Jahren, sinnierte Eldon, war das Gesicht des fetten Mannes nicht von Sorgen gezeichnet.
Als er den Gang hinunter zu Braids Arbeitszimmer ging, überlegte Dr. Tarver, dass es nicht aus der Luft gegriffen wäre festzustellen, dass diese Operation ein Akt der Gnade gewesen war.
Amen.
18
Es war fast dunkel in Natchez, doch die Flutlichtanlagen dreier Baseballfelder hatten den umliegenden Park zu einer smaragdgrünen Insel in der Nacht verwandelt. Chris hatte keine weitere Spur mehr von Alex Morse gesehen, doch er spürte, dass sie in der Nähe war. Er hatte die Fahrt nach Hause hinausgezögert, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, doch es sah nicht danach aus, als würde er diese Zeit bekommen. Nachdem Thora einige Minuten schmollend am Zaun gestanden hatte, kam sie nun die Tribüne hinauf zu ihm, zwei mit Kondenswasser beschlagene, eiskalte Flaschen Dasani in den Händen. Chris hatte sich einen Sitzplatz in der obersten Reihe gesucht, in der Hoffnung, endlosen Rezitationen medizinischer Symptome zu entgehen. Thora sprach mit jedem von Chris’ Patienten auf dem Weg zu ihm hinauf, und sie antwortete mit der überschwänglichen Bereitwilligkeit, die typisch war für die Frauen von Ärzten.
»Wirst du mir sagen, was los ist?«, fragte Thora flüsternd, nachdem sie endlich neben ihm Platz genommen hatte.
»Nichts«, antwortete er. »Überhaupt nichts. Ich verliere nur nicht gerne.« Er starrte nach vorn, ohne sie anzusehen.
Sie stellte eine der Flaschen auf die Sitzbank neben sich. »Sieht aber nicht so aus, als wäre das alles.«
»Ist es aber.«
Sie beugte sich zu ihm herüber, ohne den Kopf in seine Richtung zu drehen, und redete mit leiser Stimme. »Ich dachte, die Aussicht auf Sex würde dich nach Hause locken, ob du nun gewonnen oder verloren hast.«
Er starrte sie an. Als sie sich zu ihm umdrehte, bemerkte er ungewöhnliche Linien um ihre Augen herum. Zeichen von Anspannung.
»Was hast du heute den ganzen Tag gemacht?«, fragte er.
Sie wich ein wenig vor ihm zurück. »Das ist ein überraschender Themenwechsel.«
Er zuckte die Schultern.
»Die üblichen Dinge«, sagte Thora und blickte wieder nach vorn aufs Spielfeld. »Ich bin gelaufen, geschwommen, war zum Krafttraining. Dann Mittagessen. Dann habe ich mich mit den Bauunternehmern gestritten und ein paar Sachen für meine Reise gekauft.«
Fast hätte Chris gefragt, wie das Essen gewesen war. Stattdessen erkundigte er sich: »Was war denn schon wieder mit den Bauunternehmern?«
Thora zuckte die Schultern. »Die gleiche alte Geschichte. Verzögerungen bei den Schreinerarbeiten, andere Anweisungen. Sie wollen mehr Geld im Voraus.«
Chris nickte, doch er sagte nichts.
Während das Spiel seinen Lauf nahm, suchte er die Zäune und die Sitzbänke ab. Er kannte fast jedes Gesicht, das er sah. So war das in Kleinstädten wie Natchez. Manche Familien waren mit vier Generationen hergekommen. Chris sah einen Mann ungefähr in seinem Alter, der ihm zuwinkte. In seinen Händen und im Gesicht breitete sich mit einem Mal eine merkwürdige Taubheit aus. Der Mann war Shane Lansing.
Chris musterte die athletische Gestalt und die attraktiven Gesichtszüge des Chirurgen. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass Lansing eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Lars Rayner besaß, Thoras treulosem Vater. Die Haarfarbe war unterschiedlich, doch abgesehen davon waren die Ähnlichkeiten beträchtlich. Beide waren muskulös und schlank, beide waren arrogant und manchmal grausam, und beide waren Chirurgen mit übergroßen Egos. Lars Rayner war ein
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