Leises Gift
angerufen und sie informiert, dass der Onkologe sie zurück ins Krankenhaus verlegt hatte, weil sich der Zustand der Leber verschlimmert hatte. Alex hatte gleichzeitig angefangen zu packen und zu trinken, während sie immer wieder auf den Bildschirm gestarrt hatte, um zu sehen, ob Jamie online gegangen war.
Sie trank mehr, als sie beabsichtigt hatte – eine ganze Menge mehr –, mit dem Ergebnis, dass sie in ihren Sachen einschlief und kurz vor Mitternacht hochschrak mit einer zum Platzen vollen Blase und einem entsetzlich schlechten Gewissen, weil sie sowohl Jamie als auch ihre Mutter im Stich gelassen hatte.
Erleichterung erfasste sie, als sie das kleine grüne Symbol erblickte, das Jamies Anwesenheit im Netzwerk signalisierte. Bevor sie ein Wort tippen konnte, erschien eine Einladung zur Videokonferenz auf ihrem Schirm. Sie akzeptierte und wartete, während das kleine Fenster auf dem Bildschirm erschien. Als Jamies Gesicht darin auftauchte, blieb ihr die Freude im Hals stecken. Es war gerötet, und auf den Wangen glitzerten Tränen. Bill hatte ihm offensichtlich erzählt, dass seine Großmutter zurück ins Krankenhaus gebracht worden war.
»Was ist denn los, kleiner Mann?«, fragte sie in der schwachen Hoffnung, dass es vielleicht doch nur ein verlorenes Baseballspiel war. »Was ist passiert?«
»Missy zieht bei uns ein.«
Der Schock durchfuhr Alex wie ein elektrischer Schlag. »Was? Wieso sagst du so etwas?«
»Sie war heute Abend zum Essen bei uns. Sie hat sich ganz merkwürdig benommen, als wäre sie meine neue beste Freundin oder so. Dann sagte Dad irgendwas von wegen, wie großartig es für mich wäre, wenn wieder eine Frau im Haus wohnen würde. Beide haben mich die ganze Zeit beobachtet, nachdem er das gesagt hat. Ich bin nicht dumm, Tante Alex. Ich weiß, was sie vorhaben.«
Fast wäre Alex aufgesprungen und von der Webcam weggegangen. Sie schaffte es nicht, ihre Emotionen in dieser Situation zu kontrollieren. Doch vielleicht war es besser, sie nicht zu verbergen. Was dachte sich Bill nur dabei? Seine Frau war noch keine sechs Wochen unter der Erde, und er plante bereits, seinem trauernden Sohn die eigene Geliebte als Ersatzmutter vorzusetzen? Der Mann hatte absolut kein Gefühl für Anstand.
»Was soll ich nur tun?«, fragte Jamie, und in diesem Moment spürte Alex die volle Last der Verantwortung für seine Zukunft.
»Du spielst mit, das wirst du tun. Halt durch.«
Jamie wischte sich die Augen. »Muss ich hierbleiben, wenn sie einzieht?«
Alex biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Versuchung an, dem Jungen falsche Hoffnungen zu machen. »Ich fürchte ja. Jedenfalls nach dem Gesetz.«
Er wand sich, doch Wut und Empörung schienen die Oberhand über seinen Kummer zu gewinnen, jetzt, da er mit Alex reden konnte.
»Kannst du mir nicht irgendwie helfen?«, fragte er. »Gibt es denn keine Möglichkeit, dass ich zu dir kommen und bei dir bleiben kann?«
»Vielleicht. Ich arbeite jeden Tag daran. Aber du darfst mit niemandem darüber reden, hörst du? Nicht mit deinem Dad und ganz sicher nicht mit seiner Missy.«
»Ich hasse sie!«, sagte Jamie aus vollem Herzen. »Hasse sie, hasse sie, hasse sie!«
Missy ist nicht das Problem, dachte Alex. Bill ist das verdammte Problem.
»Ich hab meine Hausaufgaben noch nicht gemacht«, sagte Jamie. »Ich hab Dad gesagt, ich wäre damit fertig, aber das war gelogen. Ich konnte einfach nicht. Ich konnte mich nicht konzentrieren.«
»Meinst du, du kannst es jetzt?«
Jamie zuckte die Schultern. »Kannst du online bleiben, wenn ich’s versuche?«
Alex musste nach Jackson aufbrechen. Sie war bereits sehr spät dran, und die Fahrt dauerte zwei Stunden, doch wie konnte sie sich vor Jamies Ängsten und seiner Verwirrung verschließen? Welche Entscheidung hätte ihre Mutter in dieser Situation getroffen? Alex zwang sich zu einem Lächeln, als hätte sie alle Zeit der Welt.
»Aber selbstverständlich. Lass mich nur vorher schnell auf die Toilette gehen.«
Jamie kicherte. »Ich muss auch mal! Ich hatte Angst, ich könnte dich verpassen, deswegen hab ich angehalten und vor dem Bildschirm gewartet. Fast hätte ich in meine Coladose gepinkelt.«
»Dann sehen wir uns gleich wieder.«
Jamie hielt die Handfläche vor die Kamera, ihr Ersatz für körperlichen Kontakt. Alex hob ihre Hand zur Antwort, doch sie musste sich abwenden, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Dieser Junge hält mich am Leben. Und er ist so viel wert wie zehn von der Sorte seines
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