Leises Gift
aus Natchez eingetroffen war, eine Demonstration wahrer Loyalität gegenüber der Witwe eines Partners, auch wenn es längst keinen Unterschied mehr machte.
»Nicht besser und nicht schlechter.«
»Hat sie weitergeschlafen, nachdem ich gefahren bin?«
»Nicht die ganze Nacht, aber sie hat mehr geschlafen als ich.«
Der alte Detektiv stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Verdammt, Mädchen, ich hab dir schon letzte Woche gesagt, dass du eine Pause brauchst! Nimm eine große Pille und leg dich zwanzig Stunden schlafen! Dieser verdammte Rusk wird sich bestimmt nicht in Luft auflösen. Aber du bist wahrscheinlich längst zu erwachsen, um noch auf mich zu hören.«
Alex versuchte ein Kichern, doch sie brachte es nicht zustande.
»Wie dem auch sei, ich hab ein paar Neuigkeiten, die dich wach machen werden«, sagte Kilmer.
»Und was hast du?«, fragte sie.
»Erinnerst du dich an William Braid?«
»Sicher. Der Ehemann von Opfer Nummer fünf.«
»Letzte Woche habe ich dir erzählt, dass mir Berichte vorliegen, denen zufolge er stark zu trinken angefangen hat.«
Margaret begann zu schnarchen. »Ja. Und du hast erzählt, seine Geliebte hätte ihn verlassen.«
»Richtig.«
»Und? Was hat er jetzt wieder angestellt?« »Sieht so aus, als hätte er versucht, sich den Rest zu geben.«
Ein aufgeregtes Erschauern machte Alex schlagartig hellwach. »Wie? Wann?«
»Gestern Abend, in seinem Haus in Vicksburg. Jedenfalls ist die Polizei von Vicksburg dieser Meinung.«
»Erzähl weiter.«
»Braid war Diabetiker. Gestern Abend – oder irgendwann zwischen gestern Abend und heute Morgen, als seine Haushaltshilfe ihn fand – hat er sich genügend Insulin geschossen, um in ein Koma zu fallen. Ein permanentes Koma.«
»Heilige Scheiße! Könnte es sich um einen Unfall handeln?«
»Möglich, aber Braids Arzt meint, es wäre unwahrscheinlich.«
»Das könnte die Chance sein, auf die wir gewartet haben. Unser Durchbruch.«
»Könnte sein«, sagte Will im vorsichtigen Tonfall eines alten Jägers, dem schon zu viel Wild in letzter Sekunde entkommen war.
»Es waren Schuldgefühle«, überlegte Alex laut. »Braid kam nicht zurande mit dem, was er seiner Frau angetan hat.«
»Sie hatte einen schweren Tod. Schlimmer als die meisten anderen.«
»Wir müssen alles herausfinden, was wir über die letzten Tage von Braid ermitteln können. Hast du Leute in Vicksburg?«
»Ich kenne einen Typen dort, der Ehesachen übernimmt. Er schuldet mir den einen oder anderen Gefallen.«
»Danke, Onkel Will. Ohne dich wäre ich vollkommen aufgeschmissen.«
»Noch etwas«, fuhr Will Kilmer fort. »Ich habe jemanden an der Hand, der bereit ist, zwei Nächte im Alluvian Hotel für dich zu verbringen. Seine Frau wollte schon immer mal dorthin und sich den Laden anschauen. Wenn du die Kosten für ihr Zimmer übernimmst, zahlen sie den Rest aus eigener Tasche.«
»Wie teuer ist das Zimmer?«
»Vierhundert.«
»Für zwei Nächte?«
Will kicherte leise. »Eine.«
Alex rief sich den Stand ihres letzten noch aktiven Bankguthabens ins Gedächtnis; dann verdrängte sie den Gedanken wieder. Sie würde tun, was notwendig war, um Chris Shepard auf ihre Seite zu bringen. »Einverstanden«, sagte sie. »Ich zahle.«
»Fährst du heute noch nach Natchez zurück?«
»Ich habe keine andere Wahl. Shepard ist meine einzige Chance.«
»Kommst du voran bei ihm?«
»Er braucht eine Weile. Niemand findet gerne heraus, dass sein ganzes Leben eine einzige Lüge war.«
Will seufzte zustimmend. »Sag deiner Mama, ich komme irgendwann im Lauf des Tages vorbei.«
Alex blickte zum eingefallenen Gesicht ihrer Mutter. Ihr Mund stand offen, und Speichel rann in einem stetigen Fluss auf das Kissen. Für einen Moment hatte Alex den absurden Eindruck, dass die Flüssigkeit aus dem IV-Beutel durch die Nadel in ihre Mutter und durch ihren Mund gleich wieder aus ihr lief. »Mach ich.«
»Hey, Kleines … ist alles okay?«
»Sicher, Onkel Will. Es ist nur … ich sitze hier und sehe Mama an, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand einem anderen Menschen absichtlich so etwas antun könnte. Geschweige denn einem Menschen, den man einmal geliebt hat.«
Sie hörte das Röcheln von Wills Emphysem. Als er wieder sprach, geschah es im Tonfall eines Cops, der zwanzig Dienstjahre mit weit geöffneten Augen hinter sich gebracht hatte. »Glaub mir, Darling, das solltest du besser. Ich habe Menschen anderen Menschen Dinge zufügen sehen, für die Gott keine Hölle
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