Leises Gift
Vaters.
Während sie sich vom Computer zurückzog, sprach sie mit leiser, nachdrücklicher Stimme, die von ihrem Vater hätte kommen können. »Dieser Junge ist ein Morse, kein Fennell. Und er wird von jemandem aufgezogen werden, dem das nicht gleichgültig ist.«
Fünf Meilen von Alex Morses Motelzimmer entfernt lag Chris Shepard im Bett seines Adoptivsohns und lauschte Bens leisem, regelmäßigem Atem. Er war völlig erschöpft und hätte an Ort und Stelle einschlafen können. Der vergangene Tag war einer der schlimmsten seines Lebens gewesen, und er hatte nicht den Wunsch, ihn durch weitere Diskussionen mit Thora fortzusetzen, bevor er schlafen ging. Seine Gedanken drehten sich um Morses Anschuldigungen und Thoras Erklärungsversuche, und unter diesem Sturm von Worten lauerte das beginnende Gefühl, wieder einmal alles vermasselt zu haben.
Er war fünf Jahre mit seiner ersten Frau zusammen gewesen, ehe sie geheiratet hatten, und er hatte geglaubt, sie gut zu kennen. Doch das Leben hatte ihm binnen weniger Jahre das Gegenteil bewiesen.
Kathryn Ledet hatte Physiotherapie in Jackson studiert, als Chris sie geheiratet hatte. Sie stammte aus Covington, Louisiana, war zur Tulane gegangen und aus diesem Grund überglücklich gewesen, als Chris sein praktisches Jahr am Tulane Medical Center in New Orleans absolvieren konnte. Doch als die Zeit für Chris gekommen war, seine Studienkredite zurückzuzahlen, indem er zwei Jahre lang im armen Mississippi-Delta praktizierte, war Kathryns Begeisterung verflogen. Nichtsdestotrotz hatte sie durchgehalten, bis zu jenem Tag, an dem Chris erfahren hatte, dass sein Nachfolger vier Monate Verspätung haben würde. Chris konnte es ebenfalls kaum abwarten, das Delta hinter sich zu lassen – auf ihn wartete ein Bombenjob bei einer erstklassigen Gruppe von Internisten in Jackson. Dennoch hinderte ihn sein Verantwortungsgefühl daran, die Patienten im Stich zu lassen, die er in den vergangenen beiden Jahren behandelt hatte. Kathryn hatte dieses Gefühl von Verantwortung nicht. Als Chris ihr eröffnete, dass er sich verpflichtet fühlte zu bleiben, bis sein Nachfolger eintraf, hatte sie ihre Siebensachen gepackt und war nach New Orleans gefahren. Nachdem sein Nachfolger eingetroffen war, war Chris ihr nachgereist in dem Bemühen, seine Ehe zu retten, doch es war zwecklos gewesen. Er hatte bereits bewiesen, dass er nicht der Mann war, den Kathryn wollte. Nach drei Monaten in Jackson war ihm schließlich selbst klar geworden, dass weder Kathryn noch Boutique-Medizin etwas für ihn waren. Was zurückblieb von seiner ersten Ehe war der bittere Nachgeschmack, dass er selbst nach Jahren des Zusammenlebens mit Kathryn nicht gesehen hatte, welcher Charakter sich hinter ihrer hübschen Fassade verbarg.
Er war weniger als ein Jahr mit Thora zusammen gewesen, als er ihr seinen Antrag gemacht hatte. Er kannte sie schon viel länger, hauptsächlich als hingebungsvolle Ehefrau eines seiner Patienten. In dieser Zeit hatte er gelernt, sie zu respektieren und mehr zu begehren als jede andere Frau in den sieben Jahren seit seiner Scheidung. Doch jetzt … auch ohne die flüsternden Worte von Alex Morse in seinem Kopf, spürte er, dass die Thora, die er als die Ehefrau von Red Simmons kennen und schätzen gelernt hatte, nur eine Facette eines sehr viel komplexeren Charakters war. Abgesehen davon – wie genau konnte ein Mann eine Frau überhaupt kennen? Ein Matrose konnte mehrmals die Welt umrunden und sich einbilden, die Meere zu kennen, doch in Wirklichkeit kannte er nur ein paar Wellen und Gezeiten, die sich hinter ihm längst wieder geändert hatten.
Und was war mit Ben? Der Junge, der so friedlich neben ihm schlief, hatte Chris innerhalb eines bemerkenswert kurzen Zeitraums sein ganzes Vertrauen und seine Zuversicht geschenkt. Ben suchte bei ihm nach Antworten, nach Freundschaft, nach Unterstützung und Sicherheit. Nicht finanzieller Sicherheit – davon konnte Thora genug bieten –, sondern nach dem Gefühl, dass es einen großen, starken Mann gab, der bereit war, sich zwischen ihn und jede Gefahr zu stellen, die auf ihn zukam. Auch wenn ein Teil der Bewunderung, die Ben Chris entgegenbrachte, während seiner Teenagerjahre schwinden würde, blickte er derzeit zu Chris auf, als wäre dieser unbesiegbar. Es war schwer vorstellbar, dass Thora diese Bindung aufs Spiel setzen konnte wegen einer Affäre mit einem Kerl wie Shane Lansing … und doch. Er hatte gesehen, wie Freunde und Patienten alles
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