Leises Gift
aufgegeben hatten in einem verzweifelten Griff nach etwas, von dem sie glaubten, dass sie es brauchten.
Ein senkrechter Spalt aus gelbem Licht erschien in der Dunkelheit. Dann verdunkelte ein Schatten den Spalt. Thora stand in der Tür und blickte ins Zimmer. Chris schloss die Augen und rührte sich nicht.
»Chris?«, flüsterte sie.
Er antwortete nicht.
»Chris? Schläfst du?«
Keine Antwort.
Nach ein paar Sekunden kam sie auf Zehenspitzen ins Zimmer und küsste jeden der beiden auf die Stirn. »Goodbye, Jungs«, flüsterte sie. »Ich liebe euch.«
Dann schlüpfte sie nach draußen und schloss hinter sich die Tür.
19
Alex blinzelte und stieß ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen aus. Sie hatte in einem Fegefeuer zwischen Schlaf und Wachen verweilt. Ihr Hintern war taub vom Sitzen im Krankenhausstuhl, den sie sich an das Bett ihrer Mutter geschoben hatte. Ihr Rücken schmerzte, weil sie stundenlang vornübergebeugt mit dem Kopf auf der Matratze gelegen hatte. Inzwischen drang schwaches blaues Tageslicht zwischen den Lamellen der Fensterjalousie hindurch.
Margaret Morse gehörte auf eine Intensivstation, auch wenn sie erst eine Woche zuvor ein Formular unterschrieben hatte, in dem sie für den Fall eines Zusammenbruchs entschied, dass keine außergewöhnlichen lebenserhaltenden Maßnahmen ergriffen werden sollten. Der Krebs, der in ihren Eierstöcken angefangen hatte und jahrelang unentdeckt gewuchert war, trotz dreier Operationen, hatte sich auf ihre Leber und die Nieren ausgebreitet und zahlreiche andere Bereiche ihres Unterleibs erfasst. Ihre Leber war auf die doppelte Größe angeschwollen, und sie litt unter einer starken Gelbsucht. Darüber hinaus stand sie am Rand eines Nierenversagens, was bei Eierstockkrebs eher ungewöhnlich war. Trotz allem war sie noch am Leben, weit über die Zeit hinaus, die Dr. Clarke genannt hatte, als er Alex auf das Schlimmste vorbereitet hatte. Alex hätte dem Onkologen das eine oder andere über die Energie ihrer Mutter erzählen können, doch sie hatte geschwiegen und es dem Lauf der Dinge überlassen, den Arzt über seine Patientin aufzuklären.
Auf ihrer Fahrt nach Jackson in der vergangenen Nacht wäre Alex zweimal beinahe von der Straße abgekommen. Jamies Hausaufgaben hatten mehr als eine Stunde in Anspruch genommen, und lediglich die Vorstellung von Chris Shepard, der den Baseball-Park mit seiner Frau an seiner Seite verlassen hatte, hatte Alex wachgehalten. Noch am Nachmittag am St. Catherine’s Creek hatte sie geglaubt, dass das belastende Foto und der Schock von Thoras Lüge ausreichen würden, um Chris von ihrer Schuld zu überzeugen. Doch während der Fahrt nach Jackson hatte sie sich an eine der Lektionen ihres Vaters erinnert. Wenn ein gehörnter Mann oder Ehemann seine Frau nicht in flagranti mit ihrem Liebhaber im Bett erwischte – wenn ihm nichts als Geschwätz und Andeutungen zu Ohren kamen war eine Phase des Augenverschließens unausweichlich. Manchmal wurden sogar eindeutige Beweise ignoriert. Intelligenz hatte nicht das Geringste damit zu tun. Genau wie beim ersten Schock nach einem Todesfall oder einer schrecklichen Krankheit erzwang der Lebenserhaltungstrieb eine Periode emotionalen Widerstands gegen die heraufdämmernde Wahrheit, sodass eine Anpassung an die neue Realität stattfinden konnte, und zwar ohne radikale – und möglicherweise fatale – Reaktionen. Chris Shepard durchlebte offensichtlich gegenwärtig diese Periode. Die Frage war, wie lange würde es dauern, bis sie Verärgerung und Wut wich?
Margaret stöhnte erneut. Alex drückte ihre Hand. Ihre Mutter erhielt inzwischen so viel Morphium, dass die Phasen des Wachseins sehr viel kürzer waren als die des Schlafs. Klarheit war ein längst vergessener Zustand. Zweimal im Verlauf der Nacht hatte Margaret ihre Tochter gebeten, ihren Vater und ihre Schwester ins Zimmer zu holen, um anschließend über deren gefühlloses Fernbleiben zu schimpfen. Angesichts des nahen Todes hatte Alex es nicht über sich gebracht, ihre Mutter zu erinnern, dass sowohl ihr Mann als auch ihre älteste Tochter in den vergangenen sieben Monaten gestorben waren.
Alex zuckte zusammen beim Zirpen ihres Mobiltelefons, das in ihrer auf dem Fußboden liegenden Handtasche steckte. Ohne die Hand ihrer Mutter loszulassen, streckte sie den Arm aus und zog das Handy aus der Tasche.
»Hallo?«, meldete sie sich leise.
»Ich bin es, Darling, Will. Wie geht es ihr?« Will Kilmer war bei Margaret geblieben, bis Alex
Weitere Kostenlose Bücher