Leitfaden China
vermögen sie dann auch verbal zu schildern. Doch dies ist nur durch Aufgabe eines umfassenderen Verständnisses der Lage erreichbar. Wir verstehen sie oft unvollständig und meist auch zu einfach.
Der grosse Vorteil des westlichen Erfassens der Wirklichkeit, das sich normalerweise auf ein enges, uns interessierendes Segment beschränkt, ist die Möglichkeit einer umfassenden Risikobeschränkung. Wir sammeln alle Informationen im Zusammenhang mit einem bestimmten Projekt und analysieren in der Folge die Lage, um alle Risiken möglichst umfassend zu beschränken. Dies ist einer chinesischen Person nicht möglich, sie ist mit ihren zeitlich beschränkten Wahrnehmungshorizonten ständig dem vollen Risikofeld ausgesetzt. Diese Tatsache wird in der internationalen Unternehmensführung beispielsweise dann wichtig, wenn es um eine Diskussion der Vor- und Nachteile von lokalen oder entsandten Führungskräften geht. Asiatische Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter werden ein deutlich anderes Risikoverhalten an den Tag legen.
Die nebenstehende Graphik versucht wiederum, die Unterschiede auch visuell deutlich zu machen. Sie deuten die unterschiedlichen Muster der Informationssuche und -verarbeitung in beiden Gesellschaftsformen an. Während sich die chinesische Person für alle auf sie zukommenden Informationen interessiert, konzentriert sich ein westlicher Mensch auf einen engen Bereich, der für ihn relevant scheint. Der Abstand zur Sache lässt ihn eine echte Planung machen, mit Vorentscheidung, was für das Projekt wichtig und unwichtig ist und was mögliche Kausalzusammenhänge betrifft. So wird einerseits eine Risikobeschränkung möglich und andererseits erscheint deutlich, wie ein Zeitpunkt in der Zukunft vom heutigen Moment abhängt und sich aus diesem entwickeln kann. Die chinesische Person hat keine Zukunftssicht in diesem Sinn. Sie macht dieses Manko mit Visionen wett, die sie weit in der Zukunft platziert. Mit einer fast traumwandlerischen Sicherheit geht sie davon aus, dass der Verlauf der Zeit ihr die Möglichkeiten bietet, diese Visionen zu realisieren – und dass sie über die eigenen Fähigkeiten verfügt, diese Momente auch zu ihrer Verwirklichung zu nutzen. Ich bin immer wieder von diesem visionären chinesischen Denken begeistert, das mir gerade heute in einer westlichen Umgebung zu oft fehlt.
Die beiden Muster haben deshalb ganz unterschiedliche Stärken und Schwächen. Während der chinesische Mensch den aktuellen Moment fast schlafwanderisch begreift, wird die westliche Abstraktion nur durch eine Beschränkung der Informationsmenge möglich. Dies macht das Verstehen des aktuellen Moments wesentlich schwächer, hingegen erlaubt es eine gewisse Extrapolation in die Zukunft, was im asiatischen Wahrnehmungsbild fehlt. Die Beschränkung auf den aktuellen Moment, das Hier und Heute, wird andererseits im chinesischen Muster durch eine Vision der Zukunft ersetzt, deren Verwirklichung allerdings noch völlig in der Luft liegt und sich nicht aus dem Heute ableiten lässt.
Graphik 3: Informationsaufnahme und Denkunterschiede in West und Ost
Chinesischen Denken ist weiter durch eine hohe Konkretheit geprägt, die sich einerseits aus den kurzen Wahrnehmungshorizonten ergibt, andererseits aber auch Wurzeln in den chinesischen Schriftzeichen hat. Chinesisch ist die einzige Zeichensprache, die sich bis heute erhalten hat und von einer grossen Bevölkerung gesprochen wird (siehe z. B. Barthes 1981 oder Lindqvist 1990). Alle anderen Zeichensprachen sind in ihrer Entwicklung früher oder später zu Silbenschriften geworden. Jedes chinesische Zeichen entspricht somit immer noch einem konkreten Bild, welches das Denken beeinflusst. Die Wurzel eines Zeichens kann beispielsweise aus drei Wassertropfen bestehen, was anzeigt, dass das Wort etwas mit Flüssigkeit zu tun hat. Wenn es nur zwei Wassertropfen sind, dann wird an etwas Kaltes oder Gefrorenes gedacht. Es ist denn auch kein Zufall, dass die chinesische Spracherfassung nicht wie für eine indogermanische Sprache im Wesentlichen im linken Temporallappen des Gehirns stattfindet, sondern dass gleichzeitig durch die Bildhaftigkeit der Sprache auch die rechte Hirnhälfte aktiviert wird. Zusammen mit der hervorragenden aktuellen Situationseinschätzung bringt dies eine hohe Pragmatik chinesischen Handelns mit sich, die wir im Westen oft als opportunistisch einstufen. Dies kann es zwar auch sein – es gibt sicher ebensoviele chinesische Opportunisten wie westliche. Der
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