Lektionen der Leidenschaft: Roman (German Edition)
noch nicht lange in ihren Diensten. Ihr Vater hatte sie eingestellt, als ihre Vorgängerin plötzlich kündigte, und irgendwann merkte Amelia, dass die Neue ihren Vater regelmäßig über jeden Schritt unterrichtete, den sie unternahm. Wie ein Brigadier kam sie ihr vor, der jede feindliche Truppenbewegung seinem General meldete. Offenbar schien die Frau nur ein einziges Mal tief und fest geschlafen zu haben, und das war, als sie ihren gescheiterten Fluchtversuch mit Lord Clayborough wagte.
Aber selbst mit der abscheulichen Frau im Schlepptau konnte Amelia behaupten, dass dieser Ball ein Geschenk des Himmels war. Eine Gelegenheit, auf die sie sich begierig stürzte, um der Langeweile zu entgehen und der ausschließlichen Gesellschaft dieser schrecklichen Miss Crawford. Nachdem sie die vergangenen drei Tage damit verbracht hatte, auf vier rosa-graue Wände zu starren, und die einzige Ablenkung in der Lektüre philosophischer Traktate bestanden hatte, erschien ihr die Aussicht auf ein Abendvergnügen wie ein Lichtstreif am Horizont nach einer Periode immerwährender Dunkelheit.
Mehrere Gentlemen, allesamt in Abendgarderobe mit Frack und weißer Krawatte, lungerten in ihrer Nähe herum und musterten sie aufdringlich. Amelia riss sich rasch von der Gruppe los, denn die begehrlichen Blicke der jungen Männer behagten ihr nicht.
» Lady Amelia.«
Hinter ihr ertönte eine hohe weibliche Stimme, klang zaghaft, beinahe unsicher. Amelia drehte sich um und entdeckte Miss Dawn Hawkins ein paar Schritte entfernt an der hinteren Wand neben zwei anderen Ladys, deren Gesichter ihr vage bekannt vorkamen, ohne dass sie sich an die Namen erinnern konnte. Falls sie die überhaupt je gewusst hatte.
Miss Hawkins war ein angenehmes Mädchen und wesentlich zurückhaltender als die meisten ihrer Altersgenossen, die sich auf der Jagd nach einem Ehemann befanden. Solange Miss Crawford, die die Erfrischungen am anderen Ende der Welt zu holen schien, nicht wieder auftauchte, kam eine harmlose Plauderei unter Frauen Amelia gerade recht. Besser jedenfalls, als sich von den jungen Kerlen, die auf Brautschau waren und im Geiste gerade ihren Wert kalkulierten, taxieren zu lassen.
» Guten Abend, Miss Hawkins«, grüßte Amelia zurück und war mit wenigen Schritten bei ihr.
» O nein, nicht Miss Hawkins. Das klingt so förmlich aus dem Mund von Menschen, die ich als Freunde betrachte. Bitte nennen Sie mich Dawn«, wehrte die junge Dame ab und senkte kurz den Blick.
Amelia lächelte. Sie fand Dawn angenehm natürlich, eine erfrischende Abwechslung inmitten all des gezwungenen Lächelns und geheuchelten Interesses. » Gut, aber dann können Sie kaum Lady Amelia zu mir sagen.«
Dawn strahlte angesichts dieser Aufforderung zu mehr Vertraulichkeit. Rasch drehte sie sich um und stellte Amelia den beiden anderen Ladys vor: Miss Catherine Ashford und Lady Jane Fordham.
» Wir haben uns gerade darüber unterhalten, von welchen Männern wir am liebsten zum Tanzen aufgefordert werden würden«, fügte Dawn mit bescheidenem Lächeln hinzu. » Natürlich hegt keiner der Gentlemen die Absicht, versteht sich.«
Amelia versetzte es einen Stich, als sie den resignierten Blick bemerkte, den die drei Frauen einander zuwarfen– es war wie ein geheimes Einverständnis, das bezeugte, wie vertrauensvoll die drei miteinander umgingen und wie verbunden sie sich fühlten. Sie selbst hingegen hatte niemanden. Ihre Freundin Elizabeth, die sie seit ihrer ersten Saison kannte, war inzwischen verheiratet mit dem Earl of Cresswell und wartete auf dem Landsitz in Kent auf die Geburt ihres ersten Kindes.
Sie schüttelte den plötzlich aufwallenden Schmerz ab und schaute Dawn an. Ja, sie hatte recht, denn nicht ein einziges Mal hatte sie das arme Ding auf dem Tanzparkett erblickt. Dawn wirkte linkisch, war nicht besonders groß und besaß ein bestenfalls durchschnittliches Gesicht, aber Amelia freute sich über ihre Gesellschaft, denn niemand sonst hatte in diesem Jahr ihre Freundschaft gesucht.
Dawns Freundinnen schien das gleiche Schicksal beschieden. Auch sie drückten sich am Rand des Saales herum, als müssten sie die Wände stützen, die sonst jeden Moment auf geheimnisvolle Weise einzustürzen drohten. Alle drei konnten gewiss nur eine bescheidene Mitgift vorweisen, was für jede heiratswillige Frau das Ende bedeutete, sofern sie nicht mit einem bezaubernden Gesicht oder einer beneidenswerten Figur gesegnet war.
» Was für ein Glück, dass Sie nicht von solchen
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