Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lektionen (German Edition)

Lektionen (German Edition)

Titel: Lektionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Moore
Vom Netzwerk:
eine Geschichte vorgelesen bekommen zu haben. Es musste vorgekommen sein, obgleich ihre Eltern viel beschäftigt gewesen waren, ihr Vater mit seiner Arbeit und ihre Mutter mit der Nationalen Organisation für Frauen und deren vielfältigen Anliegen. Ihre Kindheit war derjenigen im Film Mary Poppins ähnlich gewesen, natürlich ohne die zaubernde Miss Poppins selbst.
    Es war recht leicht, laut vorzulesen und dabei mit den Gedanken abzuschweifen, stellte sie fest. Sie war eigentlich in Einrichtungen aufgewachsen. Ein ehrgeizig angelegter Kindergarten, dann die Tagesstätte, die Grundschule und so fort bis zum heutigen Tag. Bis zu ihrem Auszug war sie nur fürs Abendbrot, Schulaufgaben und Bettruhe zu Hause gewesen. Einen Großteil dieser Zeit hatte sie mit ihrem Vater verbracht, da ihre Mutter immer am Telefon oder unterwegs gewesen war.
    Wie es wohl gewesen sein musste, als ihrer Mutter klar wurde, dass sie über ihren Kampf für die Rechte der Frauen, zu denen ihre Töchter werden würden, deren Kindheit versäumt hatte? Kein Wunder, dass sie sich nun Enkelkinder wünschte. Noch einmal die Gelegenheit, ein Baby zu knuddeln. Wer würde das nicht wollen?
    Sie warf einen Blick auf Bengie. Seine Augen waren halb geschlossen, aber er beobachtete sie. Sie wackelte leicht mit dem Ellbogen und ließ seinen Kopf tiefer in ihre Armbeuge sinken. Es war ein fesselnder Job, Junior zu hätscheln.
    Sie hatte sehr klare Anweisungen bekommen. Sobald er eingeschlafen wäre, sollte sie ihn mindestens eine Viertelstunde lang im Arm halten, dann den CD-Spieler einschalten, damit er zu Musik weiterschlummern konnte, und sich dann zur Tür hinausstehlen. Dieser drollige Tag war nun beinahe vorüber.
    «… und so lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage.» Sarah klappte das Buch zu und legte es behutsam beiseite.
    Sie streichelte Bengies Wange. «Braves kleines Bübchen. Mommy hat ihr Baby lieb», sagte sie. Bengie gurrte vor Wonne.
    «Schsch, kleiner Mann, sei ganz still …» Sarah stimmte das einzige Wiegenlied an, das sie ganz auswendig konnte. Dafür war es aber ein gutes. Sie schaukelte hin und her und lullte ihn in den Schlaf.
    Was trieb ihn an? Warum wollte er das hier so dringend haben, dass er einen Raum in seinem Zuhause als Kinderzimmer eingerichtet und jemanden dazu angestellt hatte, Mommy mit ihm als Baby spielen zu kommen? Heilte er so eine schreckliche Verletzung aus seiner Jugend, oder nahm er einfach Verbindung mit seinem inneren Kind auf? Würde er genesen? Musste er überhaupt genesen?
    Sie kam mit dem Liedtext durcheinander und konzentrierte sich deshalb darauf. Auf alle Fälle tat es gut, ihre Gedanken zu beruhigen und im Augenblick aufzugehen. Sollte Bengie nicht wirklich schlafen, konnte er sich sehr gut verstellen. Der Sauger hing lose in seinem offenen Mund, das Fläschchen war fast leer. Sie hielt es kopfüber, damit er austrinken konnte, sollte ihm danach sein. Seine Lippen nuckelten unwillkürlich, dann hielten sie still. Sie entzog ihm die Flasche und stellte sie beiseite.
    «Lieber kleiner Bengie», flüsterte sie. Sie strich ihm eine weiche Haarlocke aus den geschlossenen Augen. Sarah schaukelte seitwärts, summte dazu, blieb so lange wie möglich mit Baby zusammen. Als ihr Arm einschlief, schlüpfte sie so vorsichtig sie konnte unter ihm hervor. Sie steckte ihm seine Decke unters Kinn und stellte die Musik an. Ein altbekanntes Wiegenlied erklang.
    Nach dem Aufwachen würde er alles sauber machen, seine Erwachsenensachen anziehen und bereit sein, sich der Erwachsenenwelt zu stellen. Vorläufig jedoch schlief Klein-Bengie wie ein Engel. Sarah fühlte Tränen aufsteigen. Er war wirklich ein herziger kleiner Fratz. Ob er bereit für die Erwachsenenwelt war, wusste sie nicht sicher, doch bereit oder nicht, es war ganz klar Zeit zu gehen.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 24
    Die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen. Sarah rieb sich die Augen. Diese Fußnoten gaben ihr noch den Rest. Doch ihre Abschlussarbeit für das Ethik-Seminar war am nächsten Tag fällig, und sie verspätet einreichen wollte sie unter keinen Umständen. Mit dem eigentlichen Text war Sarah überaus zufrieden. Sie hatte in großem Umfang medizinische Recherchen anstellen müssen, um die Anzeichen für das Asperger-Syndrom mit den Propheten und Philosophen früherer Zeiten zu verknüpfen. Weit mehr Forschung würde erforderlich sein, um ihre Hypothese in streng wissenschaftlicher Form zu untermauern, doch es war ihr gelungen, sie

Weitere Kostenlose Bücher