Lektionen (German Edition)
kostümierte Gesellschaft aus römischen Legionären, griechischen Göttern und Göttinnen, Gladiatoren und Pharaonen. Musik und Geplapper verstummten, als Sarah ihren Auftritt hatte.
«Ladys und Gentlemen, darf ich Ihnen Dorothy vorstellen», verkündete Sarahs Begleiter.
Es herrschte verdutztes Schweigen, während Sarah von vermeintlich tausend erstaunten Augenpaaren angestarrt wurde. Sie fühlte ihr Gesicht puterrot anlaufen. Sie überflog die Menge und erspähte ein paar Mädchen von Classique in den prächtigen Gewändern von Bürgerinnen aus dem antiken Rom und Griechenland. Ja, da stand Nancy mit breitem Grinsen in ihrem Mopsgesicht und einem glitzernden Kleopatrakostüm am Leib. Sie zeigte auf Sarah und lachte.
«Ich – äh –» Sarah kam sich übergroß und dumm und lächerlich vor. Nein. Sie war nichts von alledem. Sarah klappte ihren Korb auf und zog den Plüschhund hervor. «Meine Güte, Toto», quiekste sie in voller Lautstärke, «hab so’n Gefühl, wir sind gar nicht mehr in Kansas.»
Das löste stürmischen Beifall aus. Sarah grinste in die lachende und klatschende Menge, machte einen niedlichen Knicks, schlug dreimal die Hacken zusammen und ging in den Ballsaal hinein.
Sie verwarf den Gedanken, Nancy auf der Stelle umzubringen. Vorerst stürzte sie ein Glas Veuve Clicquot hinunter und machte sich an ihre Gastgeber heran, Mr. und Mrs. Pettifer. Sie waren ein gutaussehendes Paar, Sprösslinge alten Geldadels aus Toledo. Besonders die strahlenden grünen Augen der Frau schienen auf ihr zu verweilen, als Sarah sich vorstellte und sich für ihr unpassendes Kostüm entschuldigte.
«Unsinn, Sie sehen entzückend aus. Und noch eine Kleopatra muss nun wirklich nicht im Haus rumlatschen», meinte ihre Gastgeberin.
Sarah erkundigte sich, ob sie sich um irgendwen Bestimmtes kümmern solle, und ging, mit der Antwort bewaffnet, zum Tanz mit einem Mann nach dem anderen über, bis sie sich in die erste Pause der Band hineingeflirtet und -gelacht hatte. Um sich ihren Lohn zu verdienen.
Erst kurz vor Mitternacht fand sie sich Nancy Auge in Auge gegenüber.
«Dorothy», sagte ein älterer Mann mit schütter werdendem Haupt und eindrucksvollem Schnauzer über einem Krausbart, «komm, unterhalte mich mit einer Geschichte.» Er klopfte sich aufs Knie.
Sarah wusste, dass er Anwalt für grenzübergreifendes Steuerrecht und jemand war, den ihr Gastgeber besonders zu beeindrucken suchte. Sie hockte sich auf das Knie des alten Mannes und zupfte neckisch am Lorbeerkranz, der seine Halbglatze zierte. «Ich glaube, Sie wissen die besten Geschichten zu erzählen, Sir.»
«Und wie kommst du darauf?»
«Ich habe schon von Ihnen munkeln hören, Sokrates.»
«Ach, du erkennst mich?»
«Aber gewiss.»
«Bist du nicht ein schlaues Schätzchen?» Er ließ sie auf seinem Knie hopsen.
Nancy musste die beiden, umringt von den Schranzen des alten Mannes nicht anders als Sokrates zu seiner Zeit, bemerkt haben und schlängelte sich zu den Umstehenden.
«Ich bin auch ein schlaues Schätzchen», sagte sie und zog einen Flunsch. «Ich weiß, dass Sie Fragen stellen, um zu belehren.»
«Stimmt, stimmt», räumte der alte Mann ein und nickte.
«Tatsächlich mach ich mir so meine Gedanken über das sokratische Verfahren», begann Sarah. «Ich weiß, dass Sokrates Fragen stellte, um seine Lehre zu verbreiten, aber vielleicht suchte er auf diesem Weg auch die eigenen Annahmen schärfer zu umreißen.»
«Was meinst du dazu?» Der alte Mann blickte Nancy an.
«Nun, ich bin anderer Meinung.» Nancy stockte die Stimme, aber sie gab nicht auf.
«Hast du dich mit ihm beschäftigt, Nancy?» Sarah schaute ihre Nemesis mit großen Augen an.
«Ich hab alles gelesen, was er je geschrieben hat», trumpfte Nancy mit trotzig gerecktem Kinn auf.
«Das ist schon ein Kunststück», bemerkte Sarah, «da er nie wirklich etwas aufgeschrieben hat.»
«Hat er wohl.»
«Er hat nur geredet. Xenophon und Plato haben geschrieben.» Mit klimpernden Wimpern fragte Sarah den alten Mann, auf dessen Knie sie saß: «Ist das nicht so, Sir?»
«Ganz recht.» Der alte Mann strahlte sie an. «Ich denke, kleines Fräulein», sagte er und richtete einen strengen Blick auf Nancy, «Sokrates würde dir empfehlen, keine Kenntnis vorzutäuschen, wenn du unwissend bist.»
Nancy wurde dunkelrot. Sie hätte Sarah leidgetan, wäre sie nicht schon so lange Stachel in ihrem Fleisch gewesen. So kam es, dass Sarah kichernd auf dem Knie des alten Mannes saß.
Und Nancy
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