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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hector
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Land, sangen
vor der Kulisse eines Flusses und blühenden Gesträuchs abwechselnd die Verse
eines süßen Liebesliedes. Ihre Reinheit und Schönheit wirkten wie ein
Versprechen unendlichen Glücks.
    Dann
dachte Hector daran, was Jean-Michel über Edouard gesagt hatte; er schlug sein
Notizbüchlein auf und schrieb:
     
    Beobachtung
Nr. 5: Ein Freund ist jemand, dessen Lebensweise
du akzeptieren kannst.
     
    Vielleicht
war es sogar mehr als das. Edouard und er konnten Jean-Michels Lebensweise
nicht nur akzeptieren, sie hegten beide eine gewisse Bewunderung für ihn. Das
passte wieder zu der »tugendhaften Freundschaft« von Aristoteles - jeder Freund
erfreute sich am Anblick der guten Taten des anderen. Aber Hector kannte auch
tugendsame Menschen, die ihn langweilten und mit denen er nie befreundet sein
würde.
     
    Mitten in
der Nacht wachte er auf. Er stieg aus dem Bett und ging ans Fenster. Gegenüber
vom Hotel, am nunmehr nur noch schwach beleuchteten Flussufer, konnte er einen
Mann ausmachen, der auf seinem Motorrad saß und wartete. Vielleicht auf Hector,
vielleicht auf jemand anderen.
    Hector lächelte.
Er musste sich eingestehen, dass einer der Gründe für seine Reise - und das
hätte er Clara nicht so leicht erklären können - in dem Reiz lag, mitten in
einem Abenteuer zu stecken. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatten ihn
die James-Bond-Filme zum Träumen gebracht, und nun eröffnete sich die
Möglichkeit, jenen Kinderträumen wieder näher zu kommen. Dabei wusste er
natürlich, dass diese Geschichte hier mit dem Phantasieleben eines James Bond
nichts zu tun haben würde, und überhaupt würde er nie versuchen, mit jemandem
zu kämpfen. Denn schließlich musste man auch bedenken, was Jean-Michel gesagt
hatte:
     
    Beobachtung
Nr. 6: Alte Freunde sind so rar wie
Baumriesen.
     
    Er sagte
sich, dass es einen Zusammenhang mit seiner Beobachtung
Nr. 3 gab: Ein Freund
ist jemand, den du gerne siehst. Dann schrieb er noch dahinter: Darüber
nachdenken! und schlief endlich wieder ein.
     
    Hector reist ins Land der Morgenstille
     
    Wie viele verschiedene Gesichter die Welt doch hat, dachte
Hector. Er befand sich noch immer in Asien, aber viel weiter im Norden - in
einem Land, in dem man nicht Minister oder General werden musste, um zu Geld zu
kommen; man ging stattdessen in die Geschäftswelt und zahlte Steuern. Prompt
funktionierte alles viel besser, man sah keine Kinder, die nachts auf den
Bürgersteigen schliefen, dafür aber welche, die morgens mit dem Ranzen auf dem
Rücken in die Schule gingen.
    Und
dennoch war Hector überrascht. Er hatte erwartet, zwischen Flughafen und Stadt
wie in allen Hauptstädten der Welt erst einmal Industrievororte durchqueren zu
müssen, aber nein, die Autobahn schlängelte sich zwischen dem Meer, das zur
Rechten lag, und einer kleinen, steinigen Bergkette, die im Morgenlicht golden
schimmerte, entlang. Hector war im »Land der Morgenstille«, und er fand, dass
es seinen Namen wirklich verdiente.
    So still
war es allerdings nicht immer gewesen, denn er erinnerte sich, dass die Stadt,
deren Namen der Flughafen trug, einst zum Schauplatz einer furchtbaren Schlacht
geworden war, bei der eine Armee aus allen Ländern der Welt versucht hatte, die
Region einer anderen Armee zu entreißen, welche aus dem Norden des Landes
gekommen und von den beiden Großen Bruderstaaten jener Epoche unterstützt
worden war.
    Hector freute
sich, das Licht des Nordens wiederzufinden - das gleiche Licht, das man im
Winter auch im Norden seines eigenen Kontinents um sich hatte.
    Die junge
Frau von der Botschaft erwartete ihn in der Empfangshalle seines Hotels; auch
sie war eine große Nordländerin mit blassem Teint und einer zurückhaltenden
Art, aber als regionale Besonderheit hatte sie Schlitzaugen und üppiges
schwarzes Haar.
    »Ihr
Freund hat mich hergeschickt, damit ich Ihnen sage, wo Sie sich treffen
werden.«
    »Werde ich
ihn denn nicht in der Botschaft sehen?«
    »Nein,
anders wäre es ihm lieber.«
    »Haben Sie
schon gegessen?«, fragte Hector plötzlich.
    »Ah ...
nein...«
    Und schon
saß er mit Mademoiselle Jung-In Park hinter einer großen Glaswand des
Hotelrestaurants beim Lunch - und so wie das Licht des Nordens allen Dingen
einen poetischen Reiz verlieh, war es auch mit dem Charme der jungen Frau, die
ihm ein wenig über ihr Land erzählte.
    »Diese
Stadt ist im letzten Jahrhundert dreimal erobert und zurückerobert worden«,
sagte sie, »da bleibt natürlich nicht viel Altes

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