Lelord, Francois
erhalten. Sogar unsere
historischen Paläste mussten nach den Originalplänen neu errichtet werden.«
Und auch
sie selbst schien nach Originalplänen neu geschaffen worden zu sein, getreu
der ewigen Vorlage der großgewachsenen mongolischen Reiterinnen, jener Frauen,
die vor einigen Jahrhunderten in dieses Land eingefallen waren. Jung-In Park
allerdings wirkte in ihrem dunklen und sehr schicken Kostüm rundum zivilisiert,
und in den Händen hielt sie statt des doppelt gekrümmten Bogens, mit dem ihre
Vorfahren die halbe Welt erobert hatten, ein niedliches rosa Handy.
Hector fragte
sich, weshalb er seit seiner Heirat mehr verführerischen Frauen begegnete als
je zuvor. War es vielleicht eine Bestrafung für Sünden aus einem früheren
Leben? Eine Art karmischer Fluch?
»Hierzulande
gibt es sehr berühmte Psychiater«, sagte Mademoiselle Jung-In Park.
»Interessieren
Sie sich für Psychiatrie?«
»Eigentlich
nicht.«
Sie
erklärte ihm, dass sie eine wissenschaftliche Arbeit über Aristoteles schrieb,
und Hector überlegte sich, ihre E-Mail-Adresse an Karine weiterzureichen und
damit die Zahl ihrer virtuellen Freunde zu erhöhen.
»Sagt
Aristoteles nicht etwas über die Freundschaft? Von drei Formen der Freundschaft
und so weiter?«, fragte er scheinheilig und dankte dabei im Geist seiner
wunderbaren Clara.
»Ja,
natürlich. Für Aristoteles ist die höchste Form der Freundschaft nur zwischen
zwei tugendhaften Personen möglich.« Und bei diesen Worten lächelte sie Hector
an. Er fragte sich, ob sie ihn an die nötige Tugendhaftigkeit erinnern wollte,
von deren Geist ihre Begegnung geprägt sein sollte. Oder vielleicht hatte sie
das Gefühl, selbst nicht durch und durch von dieser Tugendhaftigkeit erfüllt zu
sein?
»Aber in
welchem Sinne versteht er den Begriff Tugend?«
»Nun, es
ist das selbstlose Streben nach guten Taten, denn ein tugendhafter Mensch freut
sich an guten Werken um ihrer selbst willen. Und in der Freundschaft freut er
sich zunächst einmal darüber, dass er seinem Freund etwas Gutes tut, denn der
ist (sagt Aristoteles) wie sein zweites Selbst, aber auch darüber, ganz
allgemein das Gute zu tun. Und es freut ihn zu sehen, dass sein Freund es
genauso macht, denn einer ist so tugendhaft wie der andere.«
»Ist das
nicht ein bisschen exklusiv, so eine Freundschaft zwischen tugendhaften
Leuten?«
»Genau das
untersuche ich in meiner Studie! Freilich erkennt Aristoteles auch an, dass es
andere Formen von Freundschaft gibt - die auf Nützlichkeit oder auf Lust
beruhen -, aber er findet sie geringwertiger und auf jeden Fall nicht so haltbar.«
»Mir
scheint, dass der heilige Thomas von Aquin eine andere Konzeption von
Freundschaft hatte«, warf Hector ein und dankte diesmal im Geiste Karine.
»Absolut!«,
erwiderte Mademoiselle Jung-In Park, ebenso erstaunt wie erfreut, dass Hector sich
so gut auskannte.
Sie hätte
recht bald gemerkt, dass er fast nichts darüber wusste, aber zum Glück
klingelte in diesem Moment ihr Handy, und sie hörte dem Anrufer sehr aufmerksam
zu. Dann sagte sie: »Wir müssen los. Ich begleite Sie.«
Das
Gespräch über den heiligen Thomas von Aquin musste also auf ein andermal
verschoben werden.
Hector trifft noch einen Freund wieder
Draußen erwartete sie ein Wagen der Botschaft samt Fahrer;
das Auto wurde von einer in Plastik gehüllten kleinen Flagge geziert und hatte
tiefe Sitze. Sie rollten durch breite, von gesichtslosen Wohnblocks gesäumte
Avenuen, aber die Aussicht auf die direkt angrenzenden Berge verzauberte diese
banale Stadtlandschaft. Am Ende der breitesten Avenue konnte Hector kurz einen
herrlichen Palast erkennen, der sich bis an den Fuß der Berge zu erstrecken
schien, und dann sah er die monumentale Statue eines guten Königs, der in der
Tracht eines Mandarins auf seinem Thron saß. (»Er hat unsere Schrift erfunden«,
erläuterte Mademoiselle Jung-In Park.) Schließlich fuhren sie durch schmale,
ansteigende Straßen, die sich zwischen ruhig gelegenen Villen
emporschlängelten und hin und wieder den Blick auf die dunstverschleierte Stadt
freigaben, und dann hielt der Wagen vor einem Gebäude, das ebenfalls eine
Villa zu sein schien, tatsächlich aber ein traditionelles Restaurant war.
»Ich lasse
Sie jetzt allein«, sagte Mademoiselle Jung-In Park. »Es hat mich gefreut, Ihre
Bekanntschaft zu machen. Und vielen Dank für das Essen.«
Und mit
einem letzten Blick voller Zurückhaltung (aber immerhin: einem Blick) entfernte
sie sich, was
Weitere Kostenlose Bücher