Lelord, Francois
plötzlich.
Hector
verstand, was sie damit sagen wollte. Brice hatte immer wieder Riesendummheiten
gemacht und dabei geglaubt, er könne der Strafe entgehen, aber seine Taten
hatten ihn doch eingeholt. Dann hatte er seine kleine ökologische Nische im
Obergeschoss einer Go-go-Bar gefunden, wo er, wie er sagte, sein Lebensende
abwartete, ohne noch jemandem Leid zuzufügen. Immerhin musste es seiner
Eitelkeit schmeicheln, dass ihn viele der Mädchen für einen sympathischen
Kunden hielten.
Aber nun
hatte er für Geld seine Freunde verraten, wofür es auf der Skala der
Riesendummheiten ziemlich viele Punkte gab. Für solch ein Verhalten gab es
illustre historische Präzedenzfälle, wenngleich diesmal wenig Chancen
bestanden, dass sein Verrat die Geburt einer neuen Religion auslösen würde.
Die
Enthauptung war eine radikale Strafe, und in seinem kindlichen Universum hatte
Brice es sich gewiss nie ausgemalt, dass sie ihn eines Tages treffen könnte.
Und ebenso schrecklich war es, dass er die Nacht, in der er seine Hinrichtung
erwartete, vermutlich ganz allein verbringen musste.
Hector
hörte Valerie weinen, obwohl sie versuchte, ganz leise zu sein.
»Wie
einsam er sich jetzt fühlen muss ...«, sagte sie mit kläglicher Stimme.
Hector
hatte gerade überlegt, ob sie bei Tagesanbruch nicht doch versuchen sollten, zu
Brice vorzudringen, falls die Varak Lao ihnen ein paar Orientierungshinweise
gaben. Schlimmstenfalls könnten sie dann noch eine Handvoll Stunden mit ihrem
verurteilten Freund verbringen. Nein, schlimmstenfalls wären sie die Kandidaten
für die nächste Enthauptung! Was sollte er also tun? Kontakt zu Jean-Marcel
aufnehmen, der womöglich unbekannte Kräfte ins Spiel bringen konnte? Aber
Jean-Marcel kannte Brice nicht einmal, und warum sollte er gewaltige
Komplikationen riskieren, um einen tief gesunkenen Mediziner zu retten, der
inmitten von Barmädchen lebte? Wie Leutnant Ardanarinja würde auch er seinen
Vorgesetzten Bericht erstatten müssen. Und um die Lady freizubekommen? Ja, die
Lady würde als internationale Berühmtheit ein Eingreifen rechtfertigen. Aber
was könnte Jean-Marcel in so kurzer Zeit schon noch erreichen?
Ja, Brice
war wirklich verdammt allein.
Valerie
hatte wieder angefangen zu weinen.
»Kannst du
mich vielleicht...«
»Ja?«
»Kannst du
mich vielleicht in die Arme nehmen?«
Hector
zögerte eine Sekunde, aber länger auch nicht, dann öffnete er die Arme, und
Valerie drückte sich an ihn. Man hätte die Situation für heikel halten können,
aber er hatte Vertrauen in Valerie, die ihn ihrerseits umarmte und einfach nur
ihre Wange an die seine schmiegte. Es war ein Glück, dass er seiner Freundin
vertrauen konnte, denn einem bestimmten Teil seines Körpers vertraute er ganz
und gar nicht. Wie Hector nur zu gut wusste, scherte sich dieser kleine
Körperteil überhaupt nicht um Moral, wenn sein Eigentümer die Moral vergaß, und
schon fühlte er, wie dieser animalische Teil seiner selbst bei der Berührung
mit dem Körper der schönen Frau erwachte. Aber Hector schaffte es, Valerie
nichts davon merken zu lassen, und noch bevor einer in den Armen des anderen
einschlief, fiel Hector eine neue Beobachtung ein, die er am nächsten Tag
aufschreiben wollte:
Beobachtung
Nr. 20: Ein Freund ist jemand, der dich zu trösten versteht.
Hector hat eine Vision
»Können Sie mal ein bisschen Platz machen?«
Hector fuhr
aus dem Schlaf. War das nicht die Stimme der Lady? Das war doch unmöglich ...
Aber dann
war sie es doch, und im Licht der Morgendämmerung betrachtete sie Hector und
Valerie ganz von oben herab - mit ihrer struppigen Haarpracht und ihrer Pose
einer erzürnten Königin wirkte sie wie eine Inkarnation des neuen Tages.
Valerie und Hector lagen auf allen verfügbaren Matten und hatten sie während
ihrer unruhigen Nacht gründlich durcheinandergeschoben. Valerie rieb sich die
Augen, als könne sie nicht glauben, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut vor ihr
stand.
»Tut mir
leid, wenn ich nicht gerade gut rieche«, sagte die Lady. »Ich wasche mich
nachher.«
Sie
ergriff eine Matte, zog sie ein wenig zur Seite und legte sich ohne weitere
Umstände darauf.
»Ah,
himmlisch«, seufzte sie und legte sich den Arm vor die Augen, damit die Helle
des anbrechenden Tages sie nicht störte.
»Warten
Sie«, sagte Hector, »was ist denn eigentlich passiert?«
Die Lady
drehte ihm brummelnd den Rücken zu. »Bitte lassen Sie mich in Frieden, ich
will nur noch
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