Lemmings Himmelfahrt
Leichendoktor. Wissen S’ eh, der Herr: Vier Tag herumschnipseln und dann die Leich in die Gruft und den Fall zu die Akten legen, so lauft des bei die Herren da oben …»
«Ja, ja, verstehe … Danke für den Kaffee …»
Immerhin, denkt der Lemming, haben die Herren da oben seinen Namen noch nicht bekannt gegeben, und auch sein Foto flimmert noch nicht über die Bildschirme der Nation.Es ist aber nur eine Frage der Zeit, und diese Zeit muss er nutzen. Er muss es irgendwie schaffen, den Wolf im Schafspelz aufzustöbern, bevor die Jäger ihn, den Lemming im Wolfspelz, zur Strecke bringen …
«Prosektur!» Der Lemming reißt die Augen auf und schlägt sich an die Stirn. Prosektur! Natürlich! Er wird Bernatzky anrufen! Wenn jemand den Stand der polizeilichen Ermittlungen kennt, ist er es, der alte Bernatzky, dieses Urgestein der Wiener Gerichtsmedizin, und er kennt den Stand der Ermittlungen meistens besser als die ermittelnden Beamten selbst. Professor Bernatzky ist schon eine Legende gewesen, als der Lemming noch in den Windeln gelegen hat, denn schon damals pflegte er – nur mit seiner Lupe – Geheimnisse zu enthüllen, die selbst den modernsten Mikroskopen verborgen blieben. Seine Autorität ist kein Kind von Graden, Titeln oder Positionen; als eine Macht des Geistes steht sie über hierarchischen Geplänkeln und politischen Scharmützeln aller Art. Er ist eben eine Kapazität, ein Gelehrter der alten Schule, zuweilen ironisch, meistens gütig, und immer ein wenig wunderlich. Der Lemming hat ihn von jeher gemocht, und diese Sympathie beruht, wie ihm scheint, auf Gegenseitigkeit. Wenn ihm Bernatzky schon keinen Schlafplatz anbieten wird, so darf er doch auf ein offenes Ohr und den einen oder anderen Hinweis hoffen.
«Wo ist denn bitte die Toilette?»
«Zweimal rechts, der Herr, und dann gradaus.»
Der Lemming erhebt sich, biegt gemächlich um die Ecke, nimmt dort, vor den Blicken der Wirtin geschützt, einen Anlauf und stürzt zur Tür hinaus.
«Falott! Mistg’sindel!», tönt das wütende Keifen der Alten hinter ihm her. «I sag’s doch! A starker Mann g’höret wieder her! So wie der … Bruno Kreisky! Des war halt noch a Kanzler …»
7
Der Regen hat nachgelassen. In den Gassen der Innenstadt werden die Schirme zusammengefaltet wie schläfrige Blütenkelche. Drüben, im Westen, reißt die Wolkendecke auf und gibt ein Stückchen blauen Himmel frei. Die Luft, gereinigt und klar, riecht nach Aufbruch, nach Neubeginn.
«Hätten Sie ein paar Schillinge zum Telefonieren?»
Verlegen lächelnd tritt der Lemming einem jungen Mann mit Anzug und Krawatte entgegen und hält die Hand auf. Erfolglos. Der andere weicht zurück, greift sich mit dem Ausdruck höchster Konzentration ans Kinn und biegt dann, ohne den Lemming eines weiteren Blickes zu würdigen, nach links ab. Seine plötzliche Eile und sein selbstironisches Kopfschütteln deuten darauf hin, dass er etwas Wichtiges vergessen hat.
«Hätten Sie bitte ein paar Schillinge …»
So schnell kann es gehen. Dass er sich im Geiste ein wandelndes Nichts geheißen hat, erscheint dem Lemming nun wie übertriebene Eitelkeit. Nein, er ist weniger als nichts, er ist eine grellrote Zahl, ein dickes Minus, ein ekliges Manko.
«Hätten Sie bitte …»
Er passiert die Freyung, erreicht das Schottentor, schlägt einen großen Bogen um die Ehrfurcht gebietende Festung des Landesgerichts und strebt weiter, die Alser Straße stadtauswärts Richtung Gürtel.
«Bitte … Ich brauch’s zum Telefonieren …»
Eine junge Frau in Jeans und T-Shirt steht am Straßenrand und wartet auf das Grünlicht der Ampel.
«Entschuldige … Hättest du …»
Abwehrend zieht sie die Schultern hoch, wirft einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und murmelt, halb dem Lemming zugewandt: «Zwanzig nach neun …»
«Danke …»
Das Charisma eines Bettlers ist sein ganzes Kapital. SeinWesen sondert ein Aroma ab, das chemisch nicht zu messen ist, ein Potpourri aus Aura und Odeur, einen mentalen Geruch sozusagen, der nur allzu leicht die Grenze zum Gestank überschreitet. Der Lemming wird sich bald darüber klar, dass er auf diese Art nicht weiterkommt. Zu defensiv ist seine Körperhaltung, zu schüchtern sein Blick, zu ehrlich seine Worte …
«Verzeihen Sie, junger Mann, so was Blödes … Ich hab doch glatt die Schlüssel im Auto stecken gelassen – mein Sakko, das Portemonnaie … Könnten S’ mir aushelfen … Wenn Sie mir
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