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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Besetzungsliste dieses Trauerspiels, wenn die handelnden Personen ohne Handlung bleiben? Was bringt ihm ein Opfer ohne Täter, ein Täter ohne Motiv, ein Motivohne Grund? Balints Frau ist längst verrottet, so viel scheint klar zu sein. Und selbst wenn sie der irre Geiger nach wie vor für lebendig hielt, was konnte ihn dann glauben lassen, dass sie ihn mit Buchwieser betrog? Der Lemming fühlt sich wie am Ende eines langen Weges, der sich plötzlich als Sackgasse entpuppt.
    «Wie kam er denn auf Buchwieser?»
    Eine Frage zu viel.
    «Sie fragen immer! Fragen, fragen, fragen! Jetzt ist genug! Wenn Sie immer fragen müssen über diesen   … diesen   … Sie gehen zu Pförtnerfrau!» Wieder spuckt Schwester Ines aus, aber diesmal knapp an der Schulter des Lemming vorbei.
    «Buchwieser ist weg jetzt. Fertig. Und wir sind da.»
    Sie stehen vor den Toren von
Walhall
.

12
    Walhall
also. Betagt und trutzig, breit und plump, eine Matrone von einem Haus. Die blassgelbe Farbe erinnert an billige Schminke, die Erker und Giebelchen, Agraffen und Gesimse wirken wie veralteter Modeschmuck: unbeholfene Versuche, diesem Bastard aus Burg und Palast einen Anstrich von Charme zu geben.
    An der Seite der Freitreppe, die zum Haupteingang führt, steigt in weitem Bogen eine Rampe aus Leichtmetall an. Auf den ersten Blick nicht mehr als ein weiterer baulicher Fehlgriff, erschließt sich dem Lemming schon bald ihre wahre Bedeutung. Natürlich: Sie ist das glänzende Innungszeichen, das flammende Fanal moderner gewerblicher Fürsorge, und ihre stumme Botschaft lautet:
Dieser Betrieb ist behindertenfreundlich

    Schwester Ines schiebt den Rollstuhl die Rampe hinauf, aber schon nach wenigen Schritten verlangsamt sie das Tempound bleibt stehen. Von oben her nähert sich jemand, und dieser Jemand ist das kolossalste Wesen, das dem Lemming je vor die Augen gekommen ist. An diesem Jemand gibt es kein Vorbei,
kann
es kein Vorbei geben, völlig unmöglich, da müsste die Brücke schon doppelt so breit sein.
    Unbeirrt schaukelt der Riese heran, dieser Fleischberg von mindestens zwei Meter Höhe
und
zwei Meter Umfang; die Metallkonstruktion schwankt und ächzt bedenklich, quietscht im Rhythmus seiner Schritte. Ein leichter Wind kommt auf und bläht sein wallendes Gewand, ein Nachthemd von der Größe eines Campingzelts. Noch bemerkenswerter aber ist das Kleidungsstück auf seinem Kopf: eine knallig bunte Inkamütze, deren Ohrenklappen waagerecht abstehen und wippen wie die verbogenen Antennen eines Marsianers.
    So stampft er die Rampe herab, der Gigant, wälzt sich dem Lemming ungebremst entgegen, und der hält entsetzt den Atem an, sieht sich bereits erdrückt und zermalmt von dieser Naturgewalt, von diesem menschlichen Tsunami. Im letzten Moment aber tritt der Koloss auf die Bremse und kommt kurz vor den Rädern des Rollstuhls zum Stillstand. Nun nimmt er Haltung an, räuspert sich und setzt ein breites Grinsen auf.
    «Welch Glück, welch köstlich Freude, edler Freund, nunmehr in unsrer Mitte Euch zu wissen. So war denn all das bange Harren und das sorgenvolle Warten nicht vergeblich   … Gesegnet dieser Tag. Gesegnet auch das wunderschöne Weib an Eurer Seite: Ach holde Dame, deren Lieblichkeit die dräuenden Gewitterwolken lichtet, das düstre Firmament, die finstre Nacht mit einem kleinen Lächeln, einem Augenzwinkern vom Himmel fegt, auf dass er gleißend hell erstrahlt   …»
    Die Stimme des Riesen ist hoch, beinahe eunuchenhaft hoch, und ganz im Gegensatz zum Inhalt seiner Rede klingt sie monoton und unlebendig, so als habe er die Worte auswendig gelernt. Auch seine Haltung gleicht der eines schüchternenSchulkinds: Regungslos, mit seitlich angelegten Armen steht er da, hält den Kopf leicht gesenkt und starrt zu Boden, während die Verse seinem Mund entströmen.
    «Und wär ich auch von wohlgestaltem Wuchs, und wär ich auch der Erste unter Vielen, ja wär ich selbst von edelstem Geblüt, ich würd es doch nicht wagen, Euch zu freien. Denn nur ein Tölpel denkt, er könne sich wie Ikarus zu den Gestirnen schwingen   …»
    Die Augenbrauen hochgezogen, die Kinnlade heruntergeklappt, so sitzt der Lemming in seinem Rollstuhl und lauscht dem Monolog des feisten Kastraten, der sich längst an Schwester Ines richtet, an Schwester Ines ganz alleine.
    «…   dringt Euer Lichtstrahl in mein darbend Herz   …»
    Blankvers, fährt es dem Lemming durch den Sinn, und er versucht, sich seiner Schulzeit zu entsinnen, jenes unendlich

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