Lemmings Himmelfahrt
gar nichts zu besänftigen gibt. «Nein, Herr … Herr Bauer. Ihre Frau und ich, wir haben doch nur … Wir haben gar nicht …»
Der Mann bleibt nun doch stehen. Zieht mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen hoch. «Im Ernst? Sag, du bist doch der Neue, der si’ an nix mehr erinnern kann … Soll i dir a klane Einführung geben, oder bist ’leicht vom anderen Ufer?»
Frostige Stille kehrt ein. So frostig, dass die Gedanken des Lemming auf der Stelle gefrieren. Er schnappt nach Luft, nach Worten. Aber es ist die Pförtnerin, die an seiner statt antwortet.
«Schau, dass d’ weiterkommst, du … du Schwein … du eiskaltes Schwein!»
Franz Bauer sieht seine Frau nicht einmal an. «Halt’s Maul», sagt er ruhig. Er wendet sich ab, geht weiter, dreht sich dann kurz vor dem Durchgang zur Küche ein letztes Mal um.
«Besser a kalter Bauer als a warmer Bruder …», grinst er, bevor er das Zimmer verlässt.
18
«Gute Morgen … Gute Morgen, Schlafenmütz … Schöntag heute … Viel Vogelzwitsch … Gute Appetit …»
Das Rascheln frisch gestärkten Leinens. Der Duft frisch gebackener Semmeln. Sonnenstrahlen, die an den Zehen des Lemming lecken. Und Vogelzwitsch, jede Menge Vogelzwitsch draußen im Wald …
Warum kann nicht jeder Tag so beginnen wie dieser Freitag? Der Lemming setzt sich auf und blinzelt mit verklebten Augen auf das Tablett, das Schwester Ines ihm nun auf den Schoß stellt. Semmeln, wie gesagt, und Butter, in liebevollen Schnörkeln auf dem Teller angerichtet. Zwei gläserne Schälchen mit Marmelade, gelborange und dunkelrot, Marille und Erdbeer, klassisch. Und dann das Frühstücksei. Ein echtes Fünf-Minuten-Ei, wie der Lemming gleich feststellen wird: das Weiße hart, das Gelbe weich und sämig, ein Gedicht. Privatklinik eben, denkt der Lemming, Privatklinik. Nur der Kaffee hält nicht, was die silberne Kanne verspricht: Es ist Früchtetee.
Mit einem schamhaften Blick zum Bett Robert Stillmanns, der auch schon wach ist und an die Decke starrt, beginnt der Lemming zu frühstücken. Wie von selbst wandern seine Gedanken zum gestrigen Abend zurück, zu seinem Besuch im Pförtnerhaus. Die Erinnerung an seinen Abschied ist etwas vernebelt, zugegeben, aber sie lässt sich noch rekonstruieren – ein weiteres Plus für den mundigen Weinviertler Zweigelt.Viel haben sie ja nicht mehr miteinander geredet, er und Lisa Bauer. Nicht lange nach dem Auftritt ihres Mannes ist auch die letzte Flasche zur Neige gegangen, und kurz nach dem letzten Schluck ist die Pförtnerin weggesackt, hat ihre Augen geschlossen und leise zu schnarchen begonnen. Fast wäre auch der Lemming eingeschlafen, aber er hat es dann irgendwie doch noch geschafft, dem wunderbar weichen Fauteuil zu entsagen, um schwankend den Rückweg anzutreten. Und was für ein Rückweg! Amseln und Drosseln, Finken und Stare haben sich zu einem gigantischen Chor vereint, um dem Lemming das Geleit zu geben; ihr Gesang ein kristallklar pulsierender, unentwirrbar verflochtener Klangteppich, der sich bis weithin über die Wälder spannte. Vogelzwitsch also, so weit die Ohren reichten, Vogelzwitsch im letzten Licht des Tages, in jener mystischen blauen Stunde, die – zumindest gestern – in zweifacher Hinsicht blau gewesen ist …
«Sie sind fertig jetzt?» Schwester Ines tritt neben den Lemming und hält ihm die Zahnbürste hin. «Sie putzen. Aber gut putzen, auch die Zunge …»
«Wieso, was ist mit meiner …?»
Statt einer Antwort zückt die Schwester einen kleinen Handspiegel und hält ihn dem Lemming vors Gesicht. Natürlich: Seine Zunge quillt ihm entgegen wie eine reife Melanzani. Die blaue Stunde hat untrügliche Spuren hinterlassen …
«Das war wohl die Marmelade», murmelt der Lemming betreten.
«Nix Marmelade. Ich weiß genau, was ist Heidel und was ist Erdbeer … Sie … Sie sind ein Schlingelmann!» Schwester Ines hebt drohend den Zeigefinger, aber sie kann ein leises Lächeln nicht ganz unterdrücken. «Ich will gar nicht wissen, was Sie genascht haben gestern … Also Sie putzen jetzt. Und nach dem Putzen wir werden Sie umziehen …»
«Mich umziehen?»
«Ja. Wir werden Sie umziehen nach Walhall. Sie kommen in das Zimmer von Obla … von Herrn Balint.»
«Wie … Er ist nicht … Das Zimmer ist immer noch frei?»
«Ja, sicher ist frei. Und wenn irgendwann doch noch zurückkommt Herr Balint, wir werden weitersehen.»
Als die beiden ins Sonnenlicht
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