Lemmings Himmelfahrt
nun, was er bereits vermutet hat; die Pförtnerfrau hat ihre Schuldigkeit getan. Dass er ihr weiterhin zuhört, hat andere Gründe: seine Tarnung nämlichund seine Höflichkeit. Und den Zweigelt, der, wie er findet, ein durchaus gelungener Jahrgang ist …
«Was hat der Franz eigentlich zu deinem Gspusi mit dem Ferdl gesagt?»
«I hab’s ihm net erzählt. Und wir haben’s ja auch net da im Haus getrieben, der Ferdl und i. Wahrscheinlich weiß er’s aber trotzdem, irgendwer wird’s ihm schon unter die Nasen g’rieben haben. Jedenfalls hat mi der Franz seither nimmer ang’rührt, weder so noch so …»
«Verstehe … Und der Ferdl? Wie ist das weitergegangen mit euch beiden?»
«I hol noch ein Flascherl …»
Abrupt steht Lisa Bauer auf. Der Blick des Lemming folgt ihr, als sie das Zimmer durchquert, mit großen Schritten zunächst, dann aber kurz vor dem Durchgang zur Küche das Tempo verringert und zögernd zum Stillstand kommt, als sei ihr noch etwas Wichtiges eingefallen. Sie schwankt leicht hin und her, während sie so dasteht, der saftige Rotwein tut seine Wirkung, denkt der Lemming. Er fühlt sich ja selbst schon ein wenig ätherisch. Aber dann dreht sie sich um, und die Tränen laufen ihr übers Gesicht.
«Er hat g’sagt, er nimmt mi mit … Er hat g’sagt, wir gehen fort von da, beide, und fangen woanders was Neues an …
I kann di doch net bei dem Hurenbock lassen
, hat er g’sagt,
der prügelt di noch tot. Du hast dir was Besseres verdient
, hat er g’sagt, der Ferdl, der Hund, der Dreckshund, der blöde …» Lisa Bauer ringt die Hände, sucht nach weiteren Worten. Sie findet keine. Ein stummes Schluchzen lässt ihren Körper erzittern, schüttelt ihn durch wie ein Anfall von Schluckauf.
Der Lemming weiß nicht recht, was tun. Er kennt Momente dieser Art, Momente, in denen sein Zuspruch gefordert ist, Momente, in denen er den unüberwindlichen Drang verspürt, andere Menschen zu trösten, und seien es auch Menschen,die er gar nicht kennt. Nicht selten sind das Momente, in denen es nichts mehr zu sagen gibt, in denen kein Reden mehr hilft, nur noch Handeln. Trauer erfordert Umarmung, nicht mehr und nicht weniger. Und das ist des Lemming Dilemma: Kann man denn einen wildfremden Menschen einfach in die Arme nehmen? Man kann, entscheidet der Lemming. Man muss sogar. Er steht also auf und tritt auf sie zu, bereit, zu tun, was ihm sein Mitgefühl befiehlt.
Doch noch im selben Augenblick enthebt ihn Lisa Bauer seiner Pflicht. «Scheiß drauf, i hol jetzt den Wein …», sagt sie trotzig. Sie wischt sich mit den Ärmeln über das Gesicht, die Geste eines kleinen, verlassenen Kindes, verschwindet hinter dem Vorhang und kommt nach einer Minute mit zwei Flaschen Zweigelt zurück. «Scheiß drauf», meint sie noch einmal und greift zum Korkenzieher. «Scheiß auf den Ferdl …»
Die Gläser sind wieder gefüllt, die Zigarette glimmt, draußen kündigt ein rötlicher Schimmer das Ende des Tages an, und drinnen kommt die Pförtnerin mit geröteten Augen zum Ende ihrer Geschichte.
«Zum Schluss is der Ferdl allein ’gangen. Ohne mi … Es is kane drei Wochen her, da haben wir uns getroffen, drüben im Siegfried-Pavillon. Wir waren meistens dort, im Zimmer vom Wichs-, also vom Stillmann, weil der sowieso nix mitkriegt, hat der Ferdl immer g’sagt. Obwohl … also der Stillmann, der hat einen ordentlichen Ständer kriegen können, einfach so, mitten im Koma … Seine Bettdecke hat manchmal ausg’schaut wie der Großglockner persönlich … Na egal, jedenfalls nachher zieht si’ der Ferdl die Hosen an und sagt so was wie:
Das war’s, Schatzerl, übermorgen bist mi los …
I hab ’glaubt, i hör net recht. Und dann hat er ang’fangen, irgendwas daherzuschwadronieren, von einem Jackpot, den er machen wird, von einem Pokerblatt der Sonderklasse, das ihm in den Schoß g’fallen is.
A große Straßen
, hat er g’sagt,
a große
Straßen mit an Joker, a klanes Ass im Ärmel, mehr brauch i net, um aus dem ganzen Dreck da rauszukommen.
I bin nur dag’sessen, i hab gar nix mehr verstanden …»
«Klingt seltsam …», meint der Lemming und runzelt die Stirn. «Eine große Straße …»
«So was Ähnliches hab i dann auch g’sagt. Und dass er anscheinend a bisserl deppert g’worden is. Aber daraufhin is er noch depperter g’worden. Er hat allen Ernstes begonnen, von der Bibel zu faseln, vom Erzengel Gabriel, und dass der Heilige Geist in Wahrheit
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