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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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während er den Zettel mit spitzen Fingern aus dem F-Loch stochert, unmöglich, dass Balint ausgerechnet hier eine Botschaft für mich hinterlegt haben kann: Woher sollte er ahnen, dass ich Geige spielen will? Nein, viel zu persönlich ist dieses Versteck, viel zu geheim   …
     
    BALINT, DU BRUNZWIMMERL, WENN DU DICH VON DEINER GEILEN ALTEN VERABSCHIEDEN WILLST, DANN KOMM AM MITTWOCH INS CAFE DREHER. HALB SECHS UHR FRÜH, SEI PÜNKTLICH: DEIN SCHATZERL UND ICH FLIEGEN UM NEUN NACH MAURITIUS. IN EWIGER DANKBARKEIT DEIN ALTER FREUND FERDINAND BUCHWIESER
     
    Die Knie des Lemming werden weich. Er lässt sich aufs Bett sinken, starrt auf den Zettel, als ließen sich noch weitere, zwischen den Zeilen verborgene Worte darauf entdecken. Er versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, vergeblich zunächst: Da ist nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Es rauscht, wie es bei Nestor Balint gerauscht haben muss, als er diesen Brief gelesen hat. Aber es rauscht aus anderen Gründen.
    Was den Lemming atemlos und panisch macht, ist nicht der Inhalt der Nachricht. Es ist ihre Form.
    Große Lettern.
    Schwarze Tinte.
    Rosa Papier.

22
    Zwei zerknitterte Bogen Papier liegen nun vor dem Lemming auf der Bettdecke: der eine aus Balints Handschuh, der andere aus seiner Violine. Zwei Briefe, ein Blick, kein Zweifel: Sie stammen aus derselben Feder.
    Beruhige dich, Lemming.
    Beruhige dich und überlege.
    Ferdinand Buchwieser kann die Botschaft von heute Morgen nicht verfasst haben. Weil Ferdinand Buchwieser seit vorgestern tot ist. Folglich kommt er auch als Urheber der anderen,an Balint gerichteten Zeilen nicht infrage. Der Geigenbrief muss also eine Fälschung sein.
    Und Nestor Balint? Wozu sollte er ein derart entwürdigendes Schreiben an sich selbst richten und es mit Buchwiesers Namen versehen? Unmöglich, er kann die Nachricht aus der Geige nicht geschrieben haben. Woraus folgt, dass auch der andere, der an den Lemming gerichtete Brief aus dem Handschuh gefälscht ist.
    Beruhige dich, Lemming.
    Wenn also beide Briefe Fälschungen sind und weder aus Balints noch aus Buchwiesers Hand stammen, kann das nur eines bedeuten: Es gibt eine dritte Person in diesem tödlichen Spiel. Irgendjemand hat gewusst, dass Buchwieser an jenem verhängnisvollen Morgen vor zwei Tagen im
Dreher
sitzen würde, irgendjemand hat den ohnehin schon eifersüchtigen Balint noch weiter aufgewiegelt, vollends zur Weißglut gebracht und ihn dann auf den Pfleger gehetzt   …
    «Ein dritter Mann», flüstert der Lemming, «ein Richter und sein Henker   …»
    Aber warum gerade Buchwieser? Aus welchem Grund hatte man ihm die Rolle des Todeskandidaten zugedacht?
    Einmal mehr kommt dem Lemming sein gestriger Besuch im Pförtnerhaus in den Sinn. Angestrengt versucht er, sich der Einzelheiten des Gesprächs mit Lisa Bauer zu erinnern. Und siehe da: So absurd die ganze Situation auf den ersten Blick wirkt, so logisch erscheint sie auf den zweiten. Plötzlich fügt sich aus all den bisherigen Ungereimtheiten ein stimmiges Bild zusammen:
    Und dann hat er ang’fangen, irgendwas daherzuschwadronieren, von einem Jackpot, den er machen wird, von einem Pokerblatt der Sonderklasse, das ihm in den Schoß g’fallen is.
    Ein Jackpot also, der mit Buchwiesers Kündigung in der Ulmenklinik einherging   …
    A große Straßen, hat er g’sagt, a große Straßen mit an Joker, a klanes Ass im Ärmel, mehr brauch i net, um aus dem ganzen Dreck da rauszukommen.
    Und:
    Des kann i nur allein durchziehen   … I schreib dir dann a Ansichtskarte aus der Karibik   …
    Und dann noch die Sache mit dem Kuckuck, dem Buchwieser die Federn rupfen wollte   … Eines folgt schlüssig dem anderen, und alles zusammen lässt nur eine einzige Folgerung zu. «Erpressung», murmelt der Lemming. «klarer Fall von Erpressung   …»
    Und weißt du, wer mei Ass is? Mei Trumpf? Da kommst du nie drauf   …
     
    Der Lemming läuft den Flur entlang, so rasch es Balints Zwergenkleidung zulässt. Hinter ihm her flattern die Schöße des Schlafrocks, den er sich in aller Eile noch übergeworfen hat – zur Tarnung, wie er sich einzureden versucht. In Wahrheit ist es ihm unangenehm, den gestohlenen Anzug des Geigers zu tragen, peinlicher fast als das verhasste Nachthemd. Die Uhr, die über dem Fahrstuhl in der Mauer eingelassen ist, zeigt zwanzig Minuten vor zehn. Genügend Zeit, um lange vor der Zeit in den Walhall’schen Keller hinabzusteigen. Was auch immer der geheimnisvolle Dritte im Schilde

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