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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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führen mag: Der Lemming wird schon da sein, wird ihn bereits erwarten. Es wird ein Treffen der Fallensteller, nicht der Duellanten   …
    Genügend Zeit. Zu viel Zeit sogar. Und so beschließt der Lemming, vor dem ominösen Rendezvous noch ein Gespräch zu führen, eine Unterhaltung allerdings, die der Lemming weitgehend allein bestreiten wird   …
    «Verzeihen Sie die Störung   … Können Sie mir sagen, wo ich den Herrn Grock finde?»
    Keine Antwort. Die hagere Frau, die dem Lemming geöffnethat, starrt ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Ein hungriger, nahezu mordgieriger Blick   … Vielleicht hat ja auch sie nicht zu Abend gegessen   …
    Der Lemming hastet weiter. Klopft an die nächste Tür.
    «Verzeihen Sie   …»
    Ein gewaltiger Fleischberg wölbt sich dem Lemming entgegen, verdunkelt den Schein der Lampe, die das dahinter liegende Zimmer erhellt. Hanno ist es, Hanno, der Reimer, der Meister des Metrums, und er gleicht in seiner Nacktheit einem japanischen Sumo-Ringer. Erst bei näherem Hinsehen lässt sich unter der Südhalbkugel seines unbeschreiblichen Bauchs so etwas wie eine Unterhose erahnen. Hanno verbeugt sich und breitet die Arme aus.
    «Ihr seid zurückgekehrt   … Ein dreifach Hoch. Lasst mich, mein Freund, der Götter Gnade preisen, die Euch nach all der kummervollen Zeit wohlauf an die vertraute Küste lotsen. Erwacht, ihr Musikanten, eilt   …»
    «Moment!», unterbricht der Lemming Hannos eintönigen Mezzosopran. «Der Herr Grock   … Sie wissen schon, der kleine   … Können Sie mir bitte sagen   …»
    «…   entsagt dem Schlaf, ihr Narren, freudentrunken, hebt eure Kelche, macht die Nacht zum Tag   …»
    So bringt das nichts. Schon schickt sich der Lemming an, seine Suche an anderer Stelle fortzusetzen, als ihm ein Gedanke kommt:
Fremde Sprachen ebnen Wege in die Welt
… Es ist einer jener Werbeslogans, die man hin und wieder auf den Wiener U-Bahnsteigen lesen kann.
Fremde Sprachen ebnen Wege in die Welt
… Einen Versuch ist es allemal wert.
    «Ich brauche Eure Hilfe   … edler Freund   … Denn meine Reise ist   … noch nicht zu Ende   …»
    Hanno verstummt in derselben Sekunde. Hebt den Kopf, als habe ihm der vertraute Rhythmus, der altertümliche Klang die Ohren geöffnet. Rasch spricht der Lemming weiter.
    «Ein junger Ritter namens Grock   … genannt   … soll sich in diesen   … Euren   … heil’gen Hallen   … Ich bitte Euch, verehrter Meister, mir   … zu seinem Schlafgemach   … den Weg zu weisen.»
    Geschafft. Kein Shakespeare, aber immerhin: Die Worte scheinen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Hanno beugt sich vor und murmelt mit verschwörerischer Stimme:
    «So folgt mir denn zu Eures Ritters Tor   …»
    Er zwängt sich, nackt wie er ist, durch die Tür und stapft los. Der Lemming hinterher.
    «Ihr müsst Euch vor des Königs Schergen hüten», schnauft Hanno, während er am Lift vorbei auf das dahinter gelegene Treppenhaus zusteuert. «Des Nachts darf nur der gute Mond allein auf diesen Fluren seine Bahnen ziehen. So lautet unser ehernes Gesetz   …»
    Zwei Stockwerke tiefer biegt Hanno schlingernd ab. Er durchschreitet einen langen Gang, um endlich vor einer der hintersten Türen stehen zu bleiben.
    «Es ist vollbracht, mein Freund. Wir sind am Ziel. Ab hier müsst Ihr alleine weiterreisen. Doch seid gewiss, dass ich im Herzen stets an Eurer Seite   …»
    Der Lemming achtet nicht mehr auf Hannos weitschweifige Abschiedsrede. Er konzentriert sich auf die Tür, hinter der, wie er hofft, das Orakel lauert, das Orakel
Walhalls,
des Himmels. Und im selben Augenblick, fast so, als wären telekinetische Kräfte am Werk, senkt sich die silberne Klinke, gleitet lautlos die Tür zurück und öffnet den Weg ins kleine Reich des Ritters Grock.
     
    Es hat den Anschein, als habe ihn Grock schon erwartet. Der schmächtige Mann, der immer noch in seinem grauen Anzug steckt, drückt sanft die Tür ins Schloss, während der Lemming den Vorraum durchquert und das Zimmer betritt, woer auf der Stelle zurückzuckt. Was er da sieht, nimmt ihm den Atem; er prallt förmlich ab an dieser Leere, dieser Öde, dieser vollkommenen Sauberkeit. Kein Bild ziert die Wände, kein Teppich den Boden, nicht ein einziges jener alltäglichen Dinge, die von menschlichem Leben und
Wohnen
zeugen, liegt offen herum, wie ein Bleistift etwa, eine Münze oder ein Stück Papier. Die wenigen Möbel stehen wie in einen unsichbaren Raster gezwängt: keine Kante, keine

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