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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ja nichts anderes, es kann ja nicht
vergleichen
. Nur leiden, das kann es wohl, vom Anbeginn an leiden unter einem unbegreiflichen Martyrium: dem pausenlosen Ansturm auf seine hauchzarten Sinne, seine filigranen Nerven, seinen Schlaf. Unvorstellbar, dass so ein Geschöpf keinen Schaden nimmt; es
muss
einfach – physisch und psychisch – verkümmern. Also haben wir unsere Wohnung gemieden, so gut es eben ging. Sie können sich vorstellen, was das bedeutet.»
    «Nicht im Detail   …»
    «Eine hochschwangere Frau, die auf der Straße steht, obdachlos, mitten im Winter. Die ihre Tage in der Bücherei oder im Museum verbringt, aber nicht, um zu lesen oder die Gemälde zu betrachten, sondern nur, um im Warmen zu sein. Die scheelen Blicke der Museumswärter, wenn sie morgens um acht ihren Platz im Foyer eingenommen hat:
Da ist es wieder, dieses verschrobene Weib, das bis zum Abend hier hocken und vor sich hinstarren wird. Solchen Leuten sollte man verbieten, Kinder in die Welt zu setzen, Kinder, die ohnehin in der Psychiatrie landen werden
. Ihr einziges Glück war ihre halbwegs propere Erscheinung: Ohne gewaschene Kleider und Haare hätte sie sich in versifften Bahnhofshallen aufwärmen müssen. Einmal, es war in der Lobby eines Hotels, da hat man sie trotzdem hinausgeworfen. Der Portier ist nicht einmal selbst an sie herangetreten, er hat einen Pagen geschickt, einen pampigen Rotzbengel: ‹Ich darf Sie höflich darauf hinweisen, dass wir noch Zimmer frei haben, Fräulein›, hat er mit frechem Grinsen zu ihr gesagt. Fräulein! Dieser miese kleine Wichser. Sieist im Boden versunken vor Scham und Erniedrigung. Ist den Rest des Tages schluchzend durch den Regen geirrt, durchnässt und durchfroren.»
    «Und Sie? Was haben Sie inzwischen gemacht?»
    «Wie gehabt. Ich bin im Kaffeehaus gesessen. Mit
Wasser
: Das Stück war unsere letzte Chance, dem finanziellen Desaster zu entrinnen. Ich habe nicht aufgegeben, aber mein Scheitern war vorprogrammiert. Versuchen Sie einmal, unter solchen Bedingungen zu schreiben. Schade ums Papier. Zu Mittag haben wir uns manchmal getroffen, um irgendwo etwas zu essen, und am Abend sind wir in unsere   … Notschlafstelle zurückgekehrt. Die Weihnachtszeit konnten wir daheim verbringen, da war es kurzzeitig ruhig über uns. Das Volkstheater hat mir eine weitere Fristverlängerung gewährt, so wie man als Autofahrer einen taubblinden Krüppel über die Straße humpeln lässt. Halb gnädig, halb gelangweilt. Geglaubt hat keiner mehr an mich.»
    «Nicht einmal Sie selbst?»
    «Ich habe mir die Frage nie gestellt. Ich war ein Fischer im Sturm, weit draußen auf dem Ozean, in einer leck geschlagenen Schaluppe ohne Kompass. Fischen musste ich trotzdem.»
    «Mit zerrissenen Netzen.»
    «Und mit gebrochenem Hauptmast. Aber dann, Anfang März zweitausenddrei, hat die Sonne die Wolken vertrieben. Da kam unser Sohn auf die Welt.»
    «Jetzt lächeln Sie wirklich.»
    «Sie müssen ja wissen, warum, Sie haben ja selber ein Kind. Es ist ein Wunder, wie so ein Wesen zu einem findet, wie es sich aus einer anderen Welt in die unsere tastet. Das meine ich wörtlich: ein sichtbares, augenfälliges Wunder, ganz egal, ob Lauda oder Sinowatz.»
    «Ob   … was?»
    «Ob Niki Lauda oder Alfred Sinowatz. Ist Ihnen noch nichtaufgefallen, dass Säuglinge immer dem einen oder dem anderen gleichen? Es gibt nur zwei Arten von Babys: Die einen sind schmächtig und blass, beinahe haarlos oder zumindest so blond, dass sie glatzköpfig wirken. Sie haben winzige, windkanaltaugliche Ohren und einen kaninchenartigen Überbiss. Das sind die Niki Laudas. Die anderen sind dunkel und struppig, breit und zerknautscht, mit abstehenden Ohrensegeln und platt gedrückten Nasen, kurz gesagt: Fred Sinowatz. Sie wissen schon, der burgenländische Politiker, einer der letzten integeren Staatsmänner Österreichs.»
    «Ist auch schon zwanzig Jahre her. Aber es stimmt, was Sie sagen: Mein Kleiner ist eindeutig ein Sinowatz.»
    «Unserer war ein Lauda. Vererbung wahrscheinlich. Genetik. Egal. In jedem Fall ein Geschenk, ein Mysterium, ein Segen. Unendliche Liebe   …»
    «Ich weiß, was Sie meinen.»
    «Es hat auf einmal so ausgesehen, als ginge es doch noch bergauf. Der Bub war munter und gesund, der Frühling hat Einzug gehalten. Sogar der Lärm in unserem Haus hat einen gewissen   …
konstruktiven
Unterton bekommen.»
    «Wie das?»
    «Sie haben ein Loch in die Dachhaut gestemmt. Ein Loch über dem Stiegenhaus: den Ausstieg auf unsere

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