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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Terrasse. Man konnte bereits ein Stück Himmel sehen. Dazu ein Aushang der Ratte:
Wir bedauern die bisherigen Verzögerungen und freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir die Arbeiten im Juni abschließen werden

    «Sie haben ihm geglaubt?»
    «Ich wollte ihm glauben. Es war der erste Hoffnungsschimmer seit Monaten. Sogar mit dem Schreiben ging es damals ein bisschen besser voran, es hat sich zumindest so angefühlt: Ich konnte im Freien sitzen, im Prater oder drüben an der Alten Donau, wenn meine Frau mit dem Kleinen bei ihren Eltern war.»
    «Sie hatten wieder Kontakt?»
    «Ich selber hatte keinen; da waren die Fronten schon viel zu verhärtet. Aber meine Frau   … Wenn so ein winziger Engel zur Welt kommt, werden manchmal auch steinerne Herzen weich. Die Alten haben den Buben geliebt, nur eben auf ihre verknöcherte Weise. Früher oder später haben sie es sogar zähneknirschend akzeptiert, dass wir ihn nicht taufen ließen, ja, sie haben ihn als den gottlosen Heiden angenommen, der er war – aus lauter Angst, ihn sonst womöglich nicht mehr sehen zu dürfen.»
    «Müssen Engel überhaupt getauft werden?»
    «Wenn die Engel zugleich Enkel sind, dann ja. Meinen Schwiegereltern konnte gar nicht genug getauft und gesegnet werden auf dieser Welt, die hätten sogar ihre dritten Zähne weihen lassen, wenn der Pfarrer da mitgemacht hätte. Dass sie dem Kleinen trotzdem so zugetan waren, das hat schon was geheißen. Auch wenn sie natürlich versucht haben, mich auszubooten, wo immer es ging. Für sie war ich der Schuldige, der Antichrist, der ihre Tochter ins Unglück stürzt. Sie haben ihr sogar vorgeschlagen, wieder zu ihnen zu ziehen – mit dem Buben, aber freilich ohne mich   –, bis wieder Ruhe einkehrt in der D’Orsaygasse. Der Hintergedanke war klar: Beeinflussung, Aufhetzung, schleichende Infiltration. Irgendwann wäre es ihnen wahrscheinlich gelungen, den Kleinen dem heiligen Schoß der Kirche zuzuführen und meine Frau davon zu überzeugen, dass ich nicht der Richtige für sie bin.»
    «Und sie? Wie hat sie reagiert?»
    «Sie hat das Angebot zurückgewiesen. Kategorisch zurückgewiesen. ‹Entweder wir alle oder keiner›, hat sie zu ihrem Vater gesagt. ‹Du wirst mir meine Familie nicht zerreißen, ob dir diese Familie nun passt oder nicht. Ich bleibe bei meinem Mann, da kann er sonst was sein: Chinese, Jude oder Kommunist, ein arbeitsloser Säufer oder ein zerlumpter Krimineller.› Ja, sie hat zu mir gehalten. Bis zum bitteren Ende. Bis ich es wirklich geworden bin.»
    «Was jetzt? Chinese?»
    «Hören Sie auf mit den Witzen.»
    «Entschuldigung. Das war jetzt wirklich blöd von mir.»
    «Schon gut. Jedenfalls bin ich   … Nun, ich bin kriminell geworden. Zumindest hat das die Richterin behauptet. Und mir drei Monate aufgebrummt.»
    «Was ist geschehen?»
    «Der Juni war natürlich längst vorbei, und es ist immer noch munter gestemmt und gehämmert worden: Die neuen, schon eingepassten Fenster sollten durch größere ersetzt werden, und der gesamte Eingangsbereich der Wohnung wurde wieder umgestaltet: Aus irgendeinem Grund wollte der Meraner seine Eingangstür auf der linken Seite des Stiegenhauses haben, da, wo unser Terrassenaufgang hinkommen sollte. Ich selbst war bereits auf Arbeitssuche damals: Nachdem ich die Nachfrist der Nachfrist der Nachfrist versäumt hatte, ohne ein halbwegs brauchbares, geschweige denn gutes Stück abzuliefern, hat mir das Volkstheater nahegelegt, eine Auszeit zu nehmen. Man glaube nach wie vor an mich, aber in Anbetracht meiner privaten Belastungen halte man es für sinnvoll, eine Zusammenarbeit zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt wieder ins Auge zu fassen. Ich kann nur meinen Hut ziehen vor diesen Leuten: Rücksichtsvoller hätten sie es gar nicht ausdrücken können, dass ich am Ende war, körperlich, geistig und künstlerisch abgewrackt. Anfang August hat die Ratte dann endlich unsere Treppe aufs Dach bauen lassen   …»
    «Ja, und?»
    «Es   … war keine Treppe. Es war eine Leiter. Eine schmale, senkrechte Stahlleiter, ein simpler Rauchfangkehrerausstieg. Absolut vorschriftswidrig natürlich, ein Gerippe, das die Baupolizei nie und nimmer als öffentlichen Treppenaufgang genehmigthätte. Am sechsten August habe ich die Ratte zur Rede gestellt. Es war ein Mittwoch, das weiß ich noch, weil das Dreckstück immer am Mittwoch zur Baustellenbesichtigung kam. Ich habe ihn gefragt, wann dieses sonderbare Provisorium durch eine richtige Treppe

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