Lena Christ - die Glueckssucherin
zu haben. Demgegenüber sei der Ehemann »nach Art der meisten jungen Männer« gewesen, habe also »in der Frau seiner Wahl einen weiblichen Gegenpol seiner Wünsche und Vorstellungen« imaginiert. Daher habe er nur schwer begreifen können, »dass seine Frau nicht jene sinnliche Bereitschaft mitbrachte, die er erwartete«. Goepfert äußert Verständnis für Anton Leix, der nichts anderes verlangt habe als das, was ihm als Ehemann zustünde. Das »normale« männliche Begehren wird mit der »krankhaften« weiblichen Frigidität konfrontiert – im männlichen Blick.
Die Autorin trennt in ihren Werken deutlich zwischen Lieben und Begehren. Liebe ist für sie mit Unbewusstheit und Unschuld verbunden. Die Liebespaare in ihren Geschichten sind sehr jung, beinahe noch Kinder. Zartheit und Zärtlichkeit umgeben sie, da ist nicht die Spur von Gewalt oder Dominanz. Sexuelle Gefühle überkommen die Liebenden, sie scheinen selbst von ihnen überrascht.
Schon als Kind hatte Lena Christ – im Rahmen der katholischen Erziehung – Sexualität als etwas Verbotenes und Unnatürliches begriffen. Der alte Pfarrer aus Glonn wurde jedes Mal zornig, wenn er auf das »Kammerfensterln« zu sprechen kam. »Hatte ein Bursch oder ein Mädel gebeichtet, dass sie beieinander gewesen waren, so wurde das am darauffolgenden Sonntag vor der ganzen Gemeinde von der Kanzel herab gegeißelt.« Zwar nannte er nicht die Namen der Sünder, doch seine Schilderung ließ meistens keinen Zweifel zu, um wen es sich handelte. Auch in der »Christenlehre«, die alle Kinder, die unter sechzehn waren, besuchen mussten, geriet er immer wieder in Zorn. Wenn eine oder einer die Fragen des Katechismus nicht beantworten konnte, schrie er: »Was der Katechismus dich fragt, das weißt du nicht; aber was der Bursch dich beim Fensterln g’fragt hat, das weißt du noch!«
Lena Christs Verhältnis zur Sexualität wird deutlich in einer Episode, die ziemlich unvermittelt in den Erinnerungen auftaucht: Hauptperson ist der Vater ihres Stiefvaters, der Viehhändler aus Pocking. Er habe vierzehn Frauen und neununddreißig Kinder gehabt, die allesamt von ihm tyrannisiert wurden – deren Auflistung liest sich wie ein Protokoll: »Auch diese Frau hatte keine guten Tage bei ihm; denn ihr eingebrachtes Vermögen war gleich dem der anderen Frauen bald verspielt, und nun misshandelte er sie oder verfolgte sie im Rausch mit seinen Zärtlichkeiten, was das gleiche war; denn er war herkulisch gebaut und massig wie seine Stiere.« Diese Darstellung ließ Günter Goepfert zu Recht misstrauisch werden: »Laut der von Josef Dietzinger aus Neumarkt-St. Veit im Pockinger Pfarramt erarbeiteten Genealogie sind für den betreffenden Stiefgroßvater, der von 1840 bis 1907 gelebt hat, jedoch nur zwei Ehen mit insgesamt zwanzig Kindern, von denen elf früh starben, nachweisbar.« Wie Lena Christ dazu kam, sich ein derart ausschweifendes Szenario auszumalen, ist nicht bekannt. Die Bilanz erinnert an die ihrer eigenen Ehe mit Anton Leix: »Daheim prügelte er die Frauen und in den Wirtshäusern verspielte er alles, was er besaß.«
12
Kinder, Krise, Kollaps
Obwohl sie in ihrer Ehe sehr unglücklich war, gab Lena die Hoffnung nicht auf, dass sich alles zum Besseren wenden würde, wenn sie ein Kind bekäme. Ihr unersättlicher Ehemann würde sie in Ruhe lassen müssen, und sie hätte eine neue, sinnvolle Aufgabe. Sie träumte sich in die Mutterschaft hinein, verklärte sie, empfand Vorfreude und fühlte sich gleichzeitig als Märtyrerin. Es war eine Art Mysterienspiel, das sie aus ihrem Zustand machte und in das sie ihre Erinnerungen an die beglückenden Momente als Pilgermädchen hineinprojizierte. Weder ihr Mann noch ihre Schwiegereltern noch ihre Eltern hatten Verständnis für ihre religiösen Schwärmereien, doch als sie schwanger war, nahmen alle Rücksicht und standen ihr bei.
16 Lena Christ mit ihrem Sohn Toni, 1904
Am 1. November 1902 wurde ihr erster Sohn, Anton, geboren. Der Tag hatte mit Pauken und Trompeten begonnen, denn es war nicht nur Allerheiligen, sondern auch der Namenstag des Prinzregenten Luitpold, an dem die Soldaten »mit klingendem Spiel« in die nahe gelegene Bennokirche zogen. Bei den ersten Böllerschüssen weckte Lena ihren Mann und schickte ihn nach der Hebamme. »Erschreckt fuhr mein Gatte aus dem Bett und in die Hosen; in der Eile aber brachte er das vordere Teil nach hinten, und ich musste über den komischen Anblick trotz meiner Schmerzen herzlich
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