Lena Christ - die Glueckssucherin
Hochzeit, an dessen Abend der Polterabend gefeiert werden sollte, machte die Mutter diesem Anlass alle Ehre: Sie polterte, fluchte und zeterte. Immer wieder beschimpfte sie Lena als nichtsnutzig, undankbar und faul. Zunächst hatte diese mit ihrer Technik, sich selbst auszublenden und alles an sich abprallen zu lassen, Erfolg. Es ging so weit, dass sie Mitleid mit der Tobenden hatte. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie selbst eine Tochter bekäme. Doch dann nahm alles einen so chaotischen Verlauf, dass sie in ein Wechselbad der Gefühle geriet: Die Schwiegereltern waren auf einmal äußerst zuvorkommend. Noch am Vortag hatten sie die Hochzeit infrage gestellt. Die Mutter sprach unter Tränen ihren Segen aus. Kurz davor hatte sie Lena noch wüst diffamiert. Der Bräutigam schluchzte vor Rührung. Es war zu viel für Lena. Sie begann zu zittern und fiel in Ohnmacht. Als sie aufwachte, war die Schwiegermutter bei ihr – allerdings weniger aus Sorge um sie als um ihren Sohn, wie sich aus ihren Fragen schließen ließ. Konnte es sein, dass Lena nicht die gesunde junge Frau war, die dieser verdient hatte? Lena gestand ihr, sie sei seit ihrem vierzehnten Lebensjahr bleichsüchtig und habe erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal ihre Menstruation bekommen. In den vorhergehenden Jahren hatte sich der Zyklus nur durch regelmäßige Schwächeanfälle bemerkbar gemacht. Die Schwiegermutter war erleichtert, dass nichts Schlimmeres dahintersteckte. Zuversichtlich tröstete sie Lena, in der Ehe würde sich alles normalisieren, ihr Sohn sei der beste Doktor. Nachdem es Lena wieder besser ging, konnte der Polterabend gefeiert werden. »Und heiter ging der Abend dahin, und um Mitternacht ertönten Hochrufe und knatternde Schüsse und begann ein Glückwünschen und eine Lust, dass ich mir wie verzaubert vorkam. Bald stimmte auch ich in die Lustbarkeit ein und sang noch manches Trutzliedlein in dieser Nacht.«
Später wurde sie durch lautes Weinen aus dem elterlichen Schlafzimmer geweckt. Unter heftigem Schluchzen beklagte die Mutter, nun sei alles für sie zu Ende. Niemand achte eine Schwiegermutter, und sie sei doch noch viel zu jung, um zu den Alten zu gehören. »I will no net so alt sei! I will no lebn!«, erregte sie sich. Erst allmählich gelang es ihrem Mann, sie zu beruhigen, doch Lena konnte nicht mehr schlafen.
Am nächsten Tag, ihrem großen Tag, war sie folglich überreizt und schwankte zwischen teilnahmsloser Erstarrung und übertriebener Lustigkeit. Auch die Mutter wechselte ständig ihre Stimmungen. Anfangs agierte sie mit souveräner Jovialität und spielte die Rolle der wohlmeinenden Brautmutter. Als Lena mit dem Ankleiden und Frisieren fertig war, standen sich die beiden Frauen allein gegenüber, Lena im Brautkleid und voller Erwartungen. Noch während die Mutter sie schweigend ansah, fühlte Lena schon, dass Unheil drohte. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür: Kurz vor dem Ausbruch erschien jedes Mal »etwas Böses« im Blick der Mutter. So auch jetzt, als sie ihre Rede mit der Feststellung begann, nun sei die Tochter erlöst von ihr. Dann räsonierte sie in der für sie typischen Manier vor sich hin und beklagte ihre eigene Lage – bis sie den Blick auf ihre Tochter richtete und unvermittelt sagte: »Du sollst koa glückliche Stund habn, so lang’st dem Menschn g’hörst, und jede guate Stund sollst mit zehn bittere büaßn müaßn. Und froh sollst sei, wannst wieder hoam kannst; aber nei kimmst mir nimma.«
Als Lena aus ihrer Ohnmacht erwachte, saß sie auf einem Polsterstuhl und wurde umringt von den Schwiegereltern, den Trauzeugen und den Brautjungfern. Ihre Mutter gab ihr zu trinken, bedauerte sie, jammerte und schluchzte. War vielleicht alles nur ein Albtraum gewesen? Es dauerte eine Weile, bis sich Lena orientiert hatte, doch die Angst davor, vernichtet zu werden, ließ sich nicht verdrängen. Als sie das Glas Wasser aus der Hand der Mutter nahm, dachte sie kurz, nun würde sie vergiftet, doch allmählich setzte sich bei ihr die Überzeugung durch, sie habe den zerstörerischen Fluch nur geträumt. Wie hätte es sonst sein können, dass die Mutter von Abschiedsschmerz überwältigt war, ihr nun viel Glück und Gesundheit wünschte und bat, sie möge sie nicht vergessen?
Nun ging alles seinen Gang: Die Hochzeitsgäste erschienen, Lena nahm die Brautgeschenke und Glückwünsche in Empfang, die festliche Frühstückstafel wurde eröffnet. Plötzlich ergriff die Mutter das Wort und
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