Lena Christ - die Glueckssucherin
und kam 1909 ins Gefängnis. Damit war das Ende der Familie besiegelt, auch wenn die Scheidung erst am 13. März 1912 ausgesprochen wurde.
Das Auseinanderklaffen von Realität und Erfindung wirft hier viele Fragen auf: War das tatsächliche Geschehen – die von Anton Leix begangene Unterschlagung, die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe sowie der völlige finanzielle Ruin – nicht Drama genug? Warum musste ihm die Autorin den Verstand rauben und ihn in die Irrenanstalt stecken? Wollte sie damit demonstrieren, dass sie normal, er hingegen verrückt war? Diente seine »Einweisung« als Geisteskranker der Versicherung ihrer eigenen Normalität?
Als Fluchtlinie hatte sich die Ehe nicht bewährt. Familiäre Hilfe erhielt Lena nur insoweit, als die Schwiegereltern ihren siebenjährigen Enkel Toni zu sich nahmen. Ihre eigenen Eltern wiesen ihr die Tür mit der Begründung, sie hätten selbst Schulden und könnten sie daher nicht unterstützen. Damals war Lena noch nicht klar, dass sie ihren Sohn für immer aufgab. Ob ihn die Schwiegereltern bewusst von seiner Mutter fernhielten oder ob der Junge selbst sie nicht wiedersehen wollte, ist nicht mehr zu ermitteln. Es heißt, Mutter und Sohn hätten sich nie wieder getroffen. Lena litt zeitlebens unter diesem Verlust. Nun suchte sie nicht nur den verschollenen Vater, sondern auch den verlorenen Sohn. Toni Leix wuchs bei seinen Großeltern und seinem Vater auf. Dieser wurde im September 1914 aus der Haftanstalt Nürnberg entlassen, nachdem er seine Strafe wegen Unterschlagung verbüßt hatte. Sein weiteres Leben verlief offenbar unspektakulär. Er ging eine zweite Ehe ein und starb 1942 im Alter von vierundsechzig Jahren. Lena Christ und er sahen sich nie wieder. Der gemeinsame Sohn studierte Medizin und war als praktischer Arzt und Geburtshelfer in Altmannstein im Altmühltal tätig.
1909 bezog Lena als alleinerziehende mittellose Mutter mit ihren zwei Töchtern eine Wohnung im Münchner Osten, die sie für eine geringe Miete »trockenwohnten«. Die ältere Tochter erinnerte sich später daran, vom Balkonfenster aus »Züge und viele Lichter der nahen Bahnanlage« bestaunt zu haben, und schloss daraus, dass es sich bei ihrem Wohnort um den Stadtteil Haidhausen am Ostbahnhof gehandelt haben musste.
Um die Jahrhundertwende expandierte München, die Bevölkerung wuchs, viele neue Häuser wurden gebaut. Neben den vornehmen Villenvierteln wie Bogenhausen lagen die Stadtteile, in denen die ärmere Bevölkerung wohnte. Im Münchner Osten waren das Haidhausen, Giesing und die Au. In ihrem Roman Die Rumplhanni schildert Lena Christ die damaligen Wohnverhältnisse: »Draußen bei der Kirche Maria Hilf in der Au sind die Herbergen vieler alter Bürger unserer Münchnerstadt. Und entlang dem Lilienberg lehnen noch allerhand Hütten und Häuslein, in denen schon die Urväter mancher noblen Palastbesitzer und Wagerlprotzen ihre ärmlichen Hosen zerrissen und die Wänd bekritzelt haben. Ein winziger Geißenstall, ein morscher Holzschupfen, ein alter Röhrlbrunnen oder eine mürbe Holzaltane und ein wilder Holunderstrauch in dem armseligen Wurzgärtlichen weist noch dem Beschauer die Genügsamkeit der Bewohner dieser Herbergen mit ihren zwei, drei Kammern und dem Küchenloch.«
Da die Gebäude sehr schnell hochgezogen wurden, waren die Wände oft noch feucht. »Ich band meine Habe samt den Kindern auf einen Karren und zog dahin. Ein alter, brotloser Mann, dem ich früher Gutes getan hatte, half mir dabei. Das Haus war noch ganz neu, und das Wasser lief an den Wänden herab; wir schliefen auf dem Boden und bedeckten uns mit alten Tüchern und krochen zusammen, damit wir nicht gar zu sehr froren«, berichtet Lena Christ in ihren Erinnerungen . Ihre tägliche Mahlzeit habe »in einem Liter abgerahmter Milch und einem Suppenwürfel« bestanden, für die Kinder habe sie noch ein Ei und Brot hinzugefügt und ihnen eine Suppe zubereitet. Sie sei so elend und krank gewesen, dass sie »mehr kroch als ging«. Bald wurden auch ihre Kinder krank. »Hustend und weinend hingen sie an mir, während Fieberschauer mich schüttelten.« In dieser Ausweglosigkeit habe sie mehr als einmal daran gedacht, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch die Hoffnung war größer als die Verzweiflung.
Als Erwerbsquelle nennt Lena Christ »leichtere Schreibarbeiten«, die sie nicht genauer erläutert. Dazu kam Gelegenheitsprostitution. Ihre Polizeiakte enthält Vorstrafen wegen Kuppelei und Gewerbsunzucht. Die
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