Lenas Flucht
hinterher. Kurz hinter ihm rollte Goscha mit seinem Wolga.
Als Lena in der amerikanischen Botschaft ihren Paß mit dem
Visum in der Hand hatte, trat sie wieder auf den Gartenring hinaus und schaute sich um. Von dem Banditen, der ihr in den Bus gefolgt war, keine Spur. Auch nicht von dem Krankenwagen. Dafür sah sie Goschas Wolga.
Der grinste breit, als er ihr die Tür öffnete.
»Keine Angst, Lena, sie sind weg. Der dir nachgelaufen ist, hat sich hier noch zwanzig Minuten herumgedrückt, dann jemanden mit dem Handy angerufen, ist wieder eingestiegen, und sie haben sich davongemacht.«
»Und warum mischst du dich in solche Sachen ein?« fragte Lena, als sie wieder neben Goscha saß.
»Weil es spannend ist! Und wohin möchte die Dame jetzt?«
»Zur Presnja. Kennst du die Schmidtstraße?«
In einem gediegenen Vorkriegshaus an der Schmidtstraße wohnte Lenas Tante Soja Wasnezowa, die ältere Schwesterihrer Mutter. Lena, die ihre Mutter nur von Fotos kannte, suchte seit ihrer Kindheit im Gesicht von Tante Soja etwas, das ihr helfen konnte, sich ihre Mutter leibhaftig vorzustellen. Aber wie ihr Vater immer sagte, gab es zwischen den Schwestern überhaupt keine Ähnlichkeit. Die jüngere, Jelisaweta, war klein, schlank und zart wie eine Elfe gewesen. Ihr ganzes fünfundzwanzigjähriges Leben hatte sie unbeschwert und fröhlich verbracht.
Soja war zehn Jahre älter als sie. Groß und kräftig gebaut, schritt sie mit langen Männerschritten durchs Leben und erklomm so auch die Höhen einer Parteikarriere.
Soja hatte ihr Leben lang in einem Kreisparteikomitee gearbeitet und es dort bis zum Ersten Sekretär gebracht. Aber als diese Hürde genommen war, segnete die Partei das Zeitliche und ihr Mann, Kaderchef eines Moskauer Großbetriebes, auch. Sie hatten keine Kinder, und so lebte Soja nun einsam und allein in der großen Dreizimmerwohnung. Das einzige, was sie noch aufrechterhielt, war aktive gesellschaftliche Arbeit. Sie griff ins Leben ihrer Straße ein, kritisierte Hausmeister und Ladenbesitzer, brachte die Verkäuferinnen im Milchgeschäft zur Verzweiflung, kanzelte einen Gorilla vor einer Bank oder einem Nachtklub, den ein normaler Bürger nicht einmal anzusprechen wagte, wie einen Schuljungen ab, drang auch mal in eine Bank oder ein Spielkasino ein und schlug dort Lärm, weil der neue Besitzer an seiner frisch renovierten Fassade eine Gedenktafel nicht mehr angebracht hatte, auf der es hieß: »In diesem Haus lebte 1920–1921 der Revolutionär Pupkin«. Außerdem hatte sie noch genügend Kraft, um sich lautstark an Kundgebungen der Kommunisten zu beteiligen und deren Zeitung zu verteilen, ohne auch nur eine Kopeke dafür zu nehmen. Darüber wurde aus Soja, der stattlichen, gebieterischen Walküre, nach und nach eine zerzauste alte Frau, über die man im Kiez den Kopf schüttelte.
Lena aber liebte ihre Tante Soja, denn außer ihr hatte sie keine Verwandten mehr. Und Waise will auch mit fünfunddreißigniemand sein. Sie besuchte Soja mit Taschen voller Lebensmittel, kaufte ihr etwas zum Anziehen und räumte ab und zu in der heruntergekommenen Wohnung auf.
Ihre Telefonnummer wußte Lena auswendig, weshalb sie glaubte, sie stehe gar nicht in ihrem Telefonbuch …
Sechstes Kapitel
Walja war im Schwesternzimmer eingenickt. Sie hatte nun schon die zweite Nacht Dienst und war sehr müde. Ein Alptraum plagte sie. Simakow wollte ein Neugeborenes mit einem Kissen ersticken. Walja wachte von ihrem eigenen Schrei auf. Schwester Oxana beugte sich über sie.
»Was schreist du denn so? Los, komm hoch. Wir haben eine Gebärende.«
»Was für eine Gebärende?«
»Eine ganz gewöhnliche. Geh dir die Hände waschen. Wir fangen gleich mit der Entbindung an.«
»Was – wir beide? Ganz allein?« fragte Walja erschrocken.
»Wer sonst? Simakow ist gestern abend entlassen worden, das weißt du doch. Er hat sich mit Amalia Petrowna überworfen wegen der, die abgehauen ist.«
Wie eine Entbindung ablief, wußte Walja auswendig, aber selbst hatte sie noch nie an einer teilgenommen. Sie war schrecklich aufgeregt. Kein Problem, wenn alles wie im Lehrbuch geht, aber wenn nun plötzlich etwas passiert?
Die werdende Mutter stellte sich als eine völlig aufgelöste Achtzehnjährige heraus.
»Wie heißt du denn?« fragte Walja, als sie dem Mädchen den Blutdruck maß.
Die Frage hatte keine Bedeutung und sollte das Mädchen nur ablenken.
»Nadja«, antwortete diese und schluchzte auf wie ein Kind.
»Was soll es denn
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