Lenas Flucht
haben die eine Sorge weniger. Wenn es sich natürlich um eine Kranke handelt und nicht um eine gemeingefährliche Irre. Aber dafür hat man mich dort nicht gehalten. Das paßt also auch nicht zusammen. Weder mit dem Doktor noch mit den Pflegern.«
»Gehen wir doch mal der Reihe nach vor«, meinte Krotow. »Fangen wir bei den Schlüsseln an. Die können Sie bereits früher irgendwo verloren oder vergessen haben. Was haben wir noch? Die Kippe. Das ist ganz einfach: Die kann beim Saubermachen von der Nachbartür zu Ihrer gefegt worden sein. Weiter – der Geruch in der Toilette. Das ist nun wirklich kein Indiz. Bleibt der Krankenwagen. Den überprüfe ich. Aber wiederum – was kann man den Männern vorwerfen? Die werden sich empören und erklären, sie hätten Sie nie gesehen, Ihnen nicht nachgestellt, sondern ihre Arbeit gemacht. Und auch der Arzt, der Sie untersucht hat, wird sagen, daß er sich geirrt hat und auf Nummer sicher gehen wollte. Das ist nicht strafbar.«
Lena schwieg. Sie hatte den Kopf tief gesenkt und rührte mit ihrem Strohhalm gedankenverloren im Rest des Milchshakes herum. Schließlich sagte sie ohne jede Hoffnung: »Daß mein Telefonbuch verschwunden ist und ein Foto, zählt natürlich auch nicht.«
»Nein, Lena« – Krotow seufzte tief auf –, »im Moment zählt das wirklich nicht. Sagen wir es so: Es gibt bislang keine Anhaltspunkte, die auf ein Verbrechen hindeuten.«
»Und wenn sie bei mir nun wirklich künstliche Wehen ausgelöst hätten? Wenn sie mein Kind umgebracht hätten? Ich bin immerhin 35 Jahre alt. Ich habe noch keine Kinder. Nur dieses, und das ist noch nicht einmal geboren.«
»Leider könnten wir auch dann nichts machen. Bei einem ärztlichen Irrtum Absicht zu unterstellen ist im Grunde unmöglich. Es gäbe eine lange, für Sie äußerst demütigende Ermittlung, die im besten Falle mit einer Disziplinarstrafe, wahrscheinlich aber ergebnislos enden würde.«
»Na toll!« meinte Lena sarkastisch. »Was kann ich in meiner Lage überhaupt tun? Ich traue mich nicht mehr in meine Wohnung, ich habe Angst, ins Büro zu gehen. Was soll ich denn machen?«
Krotow blickte einige Sekunden lang schweigend in die dunkelgrauen Augen seiner Gesprächspartnerin. Vor ihm saßeine Frau, die ihm gefiel wie keine andere bisher. Vielleicht drohte ihr wirklich Gefahr. Aber er konnte nichts Greifbares finden, was die ganze Geschichte zumindest ein wenig erhellt hätte.
Lena stand auf.
»Vielen Dank, Sergej. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen so viel Zeit geraubt habe.«
»Aber, Lena! Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen.« »Wofür denn?«
»Zumindest dafür, daß mir im Moment nicht einfällt, wie ich Ihnen helfen kann. Vielleicht machen wir es so … Haben Sie meine private Telefonnummer?«
»Ja, Goscha hat mir alle Ihre Nummern gegeben.«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, notiere ich mir auch Ihre – im Büro und zu Hause. Falls wieder etwas passiert, was wir nicht hoffen wollen, dann rufen Sie mich bitte sofort an. Ich werde inzwischen einige Erkundigungen einziehen und mit ein paar Fachleuten reden.«
Sie traten auf die Twerskaja hinaus. Es war inzwischen völlig dunkel geworden. Nachts fror es bereits, und der Straßenschmutz knirschte unter ihren Schritten. Lena glitt aus, und Krotow konnte sie gerade noch auffangen. Durch den dünnen Lederhandschuh spürte er ihre zarten Finger, die er am liebsten auf jeden Nagel geküßt hätte.
»Ich habe mein Auto in der Nähe. Wohin soll ich Sie fahren?«
»Danke. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, zur Schmidtstraße.«
»Wohnen Sie dort?«
»Nein. Das ist die Wohnung meiner Tante. Im Moment übernachte ich bei ihr.«
Sie stiegen ein. Krotow überlegte, daß es bis zu der angegebenen Adresse kaum fünfzehn, zwanzig Minuten Fahrt waren. Dann würde sie sich wohl verabschieden und verschwinden. Vielleicht sah er sie nie wieder. Und er würde sich quälen, nach Vorwänden suchen, um sie anzurufen. Undwenn ihm zehn einfielen, würde er es nicht tun, sich nicht dazu entschließen. Er war vierzig, sie fünfunddreißig Jahre alt. Er wußte nicht einmal, ob sie verheiratet war. Sie fürchtete sich in ihrer Wohnung und übernachtete bei der Tante? Das mußte nicht heißen, daß sie keinen Mann hatte. Der konnte auf Dienstreise sein. Das kam doch vor. So eine Frau war bestimmt nicht allein. Das gab es nicht.
Also, sagte sich Krotow, sei kein Idiot. Das verzeihst du dir nie. Frag sie wenigstens …
»Sind Sie verheiratet, Lena?«
»Nein«, antwortete
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